Seit rund vier Jahrzehnten ist Dietmar Steiner Beobachter und Akteur im internationalen Architekturdiskurs. 1993 hat er das Architekturzentrum Wien gegründet und nun beendet er seine Arbeit dort. Nicht nur aus Altersgründen, sondern auch weil er pessimistisch geworden ist, wie er meint: „…Ich muss bekennen, dass mich die gegenwärtige Business-Architektur nicht mehr interessiert. In den letzten Jahren haben die Universitäten zu viele Architekten produziert, die nur mehr als Dienstleister am Markt erfolgreich sein wollen…“
Er hat 19 Architektur-Kongresse veranstaltet und verabschiedete sich am vergangenen Wochenende mit der 20. Ausgabe. Doch nicht zu irgendeinem Thema, nein, er ließ jedes einzelne Jahrzehnt seit 1960 Revue passieren: In zwei Tagen gab es zu jedem Jahrzehnt einen Vortrag und anschließend eine Diskussion. Aufs Podium geladen waren Protagonisten aus jener Zeit, eine lange illustre Liste, die viele Zuhörer anlockte: Dabei waren etwa Rob Krier, Jacques Herzog, Dominique Perrault, Hermann Czech, Wiel Arets, Nathalie de Vries, Roger Diener, Steven Holl, Bart Lootsma, Peter Märkli, Wolf Prix, Bruno Reichlin und viele mehr – Dietmar Steiners Weggefährten seiner „architektonischen Sozialisation“, wie es hieß.
Ein gutes Konzept: Die älteren Herrschaften berichten, die junge Generation stellt die Moderatoren und die Fragen. Aber wie oft bei einer solchen Fülle an Beiträgen machte sich beim Publikum bald das Gefühl breit, dass die architektonischen Berühmtheiten, die weit angereist waren, nicht genug zu Wort kamen, nicht ausgiebig erzählen durften, wie es damals war und vor allem wie sie ihre eigene Geschichte heute sehen, weil die Zeit viel zu knapp war. Zumal die Debatten, mit Ausnahme einer Diskussion, in Englisch geführt wurden: So bestand die Gefahr bei mangelnder Sprachkenntnis – was keinem vorzuwerfen ist –, dass die Aussagen stark vereinfacht, ja banalisiert wurden. Es kam auch kaum ein Gespräch auf dem Podium zustande, kurze Aussage reihte sich an Aussage, und auch aus dem Publikum kamen keine Fragen.
Aber natürlich gab es in diesem Architekturgeschichtsmarathon viele bemerkenswerte Momente: Als etwa Jacques Herzog über seinen Lehrer Aldo Rossi sagte – übrigens auf Deutsch in seiner starken Sprache –, dass er ihn als Student bewunderte, aber bei einem neuerlichen Besuch der Mailänder Wohnzeile Gallarartese ernüchtert war und lediglich eine „gebaute ZeichnungEine Zeichnung ist eine grafische Darstellung von Objekten, Räumen oder Bauteilen.“ vorfand. Oder als Wilfried Wang überraschend die Hoffnung in den vielbeschworenen Krisenzeiten verbreitete, dass die Kreativität heute aus der innovativeren dritten Welt kommt und die Architekten dort dabei sind, Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu finden. Oder als Wolf Prix konstatierte, dass heute alle „Angst vor der Zukunft haben, während man in den Sechzigern an die Zukunft glaubte”. Oder Rob Krier die Architekten streng ermahnte, eine eigene „Handschrift zu entwickeln, ohne die Städte zu beleidigen”.
Außerdem gab es eine geglückte Kongresseinleitung durch Jean-Louis Cohen, der einfühlsam die Nachkriegszeit vor dem Publikum auferstehen ließ und auf die folgenden Jahrzehnte vorbereitete. Sowie einen besonders geglückten Schluss mit Juhani Pallasmaa: Der große, alte, weise finnische Herr der Baugeschichte riet mit einem tiefgründigen Aufsatz zu weniger Aufgeregtheit, zu mehr Besonnenheit und Bescheidenheit: keine Angst vor Wiederholung, „let’s repeat ourselves”.
Was bleibt? Es wird eine Ausgabe der Zeitschrift Arch+ Mitte nächsten Jahres zum Kongress geben, und man kann bis 20. März 2017 eine sehenswerte Ausstellung im AzW dazu besuchen: Die Kuratorinnen Karoline Mayer, Sonja Pisarek und Katharina Ritter haben sich von Steiners Pessimismus nicht anstecken lassen und eine optimistische Schau mit interessanten Bauten als Eckpunkte der Jahrzehnte zusammengestellt. Sie konnten Dietmar Steiners Haltung, dass die Architektur am Ende sei, ummünzen in den Titel »Am Ende: Architektur. Zeitreisen 1959 – 2019«.
Die Leitung des AzW wird im neuen Jahr übrigens Angelika Fitz übernehmen, die wir in unserer Februarausgabe näher vorstellen werden.
Fotos: eSel.at / Lorenz Seidler