15.10.2019

Wohnen

Zwischen den Welten

Ein Blick von unten in ein Treppenhaus

Das Treppenhaus in einem sozialen Wohnungsbau im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek. Foto: Serge Brison

Preisgekrönte Architektur: Ein Mehrfamilienhaus in Brüssel bietet großzügige Sozialwohnungen mit offenem Grundriss und raffiniertem Erschließungssystem. Das Projekt ist Teil des Contrat de Quartier Durable, ein von der Stadt Brüssel initiierter Projektzyklus in Form urbaner Akupunkturen, der sich durch verschiedene einkommensschwache Stadtteile bewegt und deren soziale Bindung stärken soll.

Expressives Spiel: die Nordfassade mit dem Eingangsbereich. Foto: Serge Brison
Wechselndes Erscheinungsbild: die Ostfassade des Gebäudes. Foto: Serge Brison

Wechselndes Erscheinungsbild

Von einem breiten Boulevard im nördlichen Brüsseler Stadtteil Schaerbeek aus blicke ich auf ein weißes Backsteinhaus. Das Gebäude liegt am Eckpunkt eines dreieckigen Straßenblocks, dessen Spitze es wie zwei Hände umschließt. Auf der einen Seite, entlang der Rue François-Joseph Navez in Richtung Brüsseler Nordbahnhof, befinden sich verlassene Lagerhallen. Die Gehwege sind leer. Auf der anderen Seite schlängelt sich der stattliche grüne Boulevard Lambermont nach Südosten hinein in die wohlhabenderen Stadtteile. Dieser starke Kontrast wird durch das weiße Backsteinhaus überbrückt, dass diese zwei verschiedenen Welten zu verbinden scheint.

Ich sehe nach oben. Direkt über mir fliegt ein Flugzeug, das gerade den Flughafen Zaventem verlässt. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag, und mir bleibt noch ein wenig Zeit bis zu meinem Termin, den ich mit einem der Partner von MS-A habe. Sie haben das Gebäude, vor dem ich stehe, entworfen.

Ich laufe noch eine Weile um den Block herum und betrachte es aus verschiedenen Blickwinkeln. Es ist eckig, mit schrägen Kanten, die aus einer urbanen „Prima materia“ herausgearbeitet wurden. Dadurch erhält es – je nachdem, wo man steht – ein komplett anderes Erscheinungsbild.

Das Treppenhaus in einem sozialen Wohnungsbau im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek. Foto: Serge Brison
Die Dachterrasse wurde an die Maisonettewohnungen angegliedert. Foto: Serge Brison
Die Kerne in den Wohnungen zonieren die einzelnen Bereiche. Foto: Serge Brison

Das erste Projekt

Ich laufe entlang des Boulevard Lambermont nach Norden über die Eisenbahnschienen, halte an, drehe mich um und gehe zurück. Aus dieser Perspektive, am Ende der Straßenachse des weitläufigen Boulevards, sieht das Gebäude aus wie ein großes leeres Schild, in dessen Mitte ein Knick verläuft. Im Hintergrund erkennt man den Hochhausturm von Jules Wabbes, der ein konvexes Echo der weißen konkaven Falte des Backsteingebäudes nachzubilden scheint. Von der Seite aus betrachtet wirkt es fast figürlich, wie ein Wesen, das auf einem schrägen Bein stehend den Kopf anhebt.

Blickt man weiter südlich stehend auf das Haus, dann tritt seine weiße Masse zwischen den Fassadenfluchten entlang des Boulevard Lambermont und der Rue François-Joseph Navez hervor. Die Anordnung der Fenster spiegelt dabei den Rhythmus und die Dimensionen der Öffnungen in den Nachbargebäuden entlang der Straße wider. Von weiter weg erscheint es dann wie ein sehr dickes Buch, das fast, aber nicht ganz geschlossen ist. Die Fenster und Balkone füllen den dadurch entstehenden Spalt entlang der Südseite.

Aufgrund der charakteristischen Form und des quasi-anthropomorphen Charakters scheint mir ein symbolischer Spitzname durchaus angebracht. Man denkt beim Betrachten ständig, dass es irgendetwas ähnlich sieht. Aber es ist schwer zu sagen, was genau – eine Art Mischung aus Plakatwand, Festungsturm und Sphinx. Die Architekten nennen es schlicht „Passiv- haus an der Navez“.

Inmitten dieser Überlegungen fällt mir ein Mann mit schwarzen Jeans und schwarzem Polohemd auf. Ich gehe sofort davon aus, dass es sich um einen Architekten handelt. Er geht mit schnellen Schritten auf das Gebäude zu. Ich erhebe mich von der Bank, gehe auf ihn zu und stelle mich vor. Wir geben uns die Hand. Es ist Jean-Marc Simon, einer der drei Direktoren von MS-A. Er ist freundlich und mir sofort symphatisch.

Er klingelt an der Eingangstür. Eine Frau antwortet. Simon erklärt, dass er der Architekt des Gebäudes ist und sich gerne umschauen würde. Die Stimme aus der Gegensprechanlage klingt begeistert. Das Schloss summt, Simon öffnet die Tür, und wir gehen hinein. Die Eingangshalle befindet sich unterhalb des erhöhten Baukörpers. Sie hat etwas Unzeremonielles, so als würde man unter einem hochgezogenen Vorhang eintreten. Dort angekommen, erklärt Simon, dass MS-A die Stadt davon überzeugen konnte, die Ausweitung des auskragenden Bauvolumens über die Grundstücksgrenze hinaus zu bewilligen.

Großzügige Wohnungen

„Sie haben dieses Projekt in Zusammenarbeit mit V+ Architects durchgeführt?“, frage ich ihn.

„Wir haben zwei Wettbewerbe zusammen gemacht. Bei dem anderen Wettbewerb handelte es sich um eine städtebauliche Studie zur Umgestaltung von Gefängnissen in anderen Teilen der Region Brüssel. Wir haben ihr Portfolio für den Wettbewerb in Navez verwendet, da wir vorher noch nie ein Projekt gebaut hatten.“

„Wirklich?“

„Ja. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir nur städtebauliche Projekte durchgeführt. Wir haben beide Wettbewerbe mit V+ gewonnen. Das war das erste Entwurfsprojekt, mit dem wir beauftragt wurden. Seither haben wir weitere Projekte umgesetzt.“

„Nicht schlecht für den Anfang!“

Wir gehen die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo eine Tür zu einer der Wohnungen offen gelassen wurde. Simon klopft an, stellt sich einem Mann in einem weißen T-Shirt vor und zeigt auf mich, den Journalisten. Wir werden in ein geräumiges Wohnzimmer geführt. Ein weiterer Mann in seinen Fünfzigern sitzt an einem Esstisch vor einer Flasche Rosé. Er trägt einen Anzug, die Krawatte gelockert, grinst und nickt höflich. Der warme Geruch von Gewürzen strömt bis in die Mitte des Raumes. Wir gehen um einen Kern herum in die Küche, die zum Wohnzimmer hin offen ist. Dort begrüßen wir eine Frau mittleren Alters in einem limonenfarbenen kongolesischen Kleid. Ein Mädchen, das ein kleines Kind auf dem Arm trägt, steht vor einem Fernseher auf der anderen Seite des Wohnzimmers. Sie wirft uns einen schüchternen Blick zu.

„Wie gefällt Ihnen das Gebäude?“, frage ich den Mann im weißen T-Shirt.

„Mir gefällt es wirklich gut, aber es gibt ein Problem mit den Erschütterungen.“

„Welche Erschütterungen?“

„Von den Bahngleisen.“

Simon läuft mit dem Mann einen Gang entlang, der von der Eingangstür aus in die entgegengesetzte Richtung führt. Der Mieter beschreibt eifrig ein Problem mit der Toilettenspülung. Ich folge ihnen. Ein Fenster schneidet ein großes Loch in die linke Wand des Korridors und öffnet sich nach Lambermont, diesseits der Eisenbahnschienen. Mir wird klar, dass es sich um eine der größeren Glasscheiben handelt, die man von außen sieht und von der ich dachte, dass sie sich im gemeinsamen Treppenhaus befindet. (…)

Den kompletten Beitrag über das preisgekrönte Projekt in Brüssel finden Sie in unserer aktuellen Baumeister-Ausgabe 10/2019.

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