Balkone des Wohnparks Alt-Erlaa

Felix Niemeier ist für sein Praktikum bei Delugan Meissl von München nach Wien umgesiedelt. In seinem ersten Bericht zieht er einen Vergleich der beiden Städte – und referiert über die internationale Angleichung von Metropolen.

Vor kurzem habe ich einen Kommentar gelesen, der vom 21. Jahrhundert als „Jahrhundert der Städte“ sprach. Der Zuzug in die Städte habe – zusammen mit der Globalisierung – die Welt so gewandelt, dass die Differenz zwischen Stadt und Land wesentlich stärker ausgeprägt sei, als diejenige zwischen den Städten untereinander. Reisenden läge eine fremde Metropole näher als das inländische Hinterland. Überhaupt fände eine generelle Homogenisierung des städtischen Lebens statt.

Ich finde es nur schwer von der Hand zu weisen, dass sich das urbane Leben international immer mehr angleicht, mit der gleichen Konsum-Infrastruktur, der Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes und einer globalen Verfügbarkeit von Waren. Aber ist es tatsächlich so, dass die Städte dadurch ihren eigenen Charakter verlieren? Ist die Identität einer Stadt so flüchtig, dass sie sich verscheuchen lässt von Leuchtreklame, Glasfaserinternet und Latte Macchiato in Pappbechern?

Frisch angekommen in Wien mache mich auf, die Seele der Stadt zu ergründen. Und damit geht es mir wohl so, wie es den meisten Menschen geht, die an einen neuen Ort ziehen: Ich orientiere mich, bewerte und sortiere. Und laufe viel durch die Straßen.

Balkone des Wohnparks Alt-Erlaa

Es erscheint geradezu töricht im Angesicht einer so stolzen Kapitale zu fragen, ob denn da etwas Besonderes sei. Eine wahre Kaiserstadt mit Anmut und Würde. Nicht so elegant wie Paris, nicht so pittoresk wie Venedig, nicht so modern wie Rotterdam. Nicht so hip wie Berlin, aber auch nicht so rustikal wie München. Nicht so melancholisch wie Lissabon, nicht so lebendig wie Istanbul. Nicht so global wie London.

Wien ist nicht aufgeregt, sondern hat Haltung. Nicht verspielt, nicht zu gewagt, meistens wohl proportioniert. Und manchmal trotzdem sogar ganz frech und fesch.

Imperiale Noblesse im Herzen Europas. In der Alpenrepublik Österreich. Von hier ist Moskau genauso weit entfernt wie Dublin. Hier spricht man Deutsch, aber mit Schmäh, die Bezirksnummern sind soziale Codes und der Kaffee ist verlängert.

Ich war beileibe nicht unvoreingenommen, als ich in die Stadt an der Donau zurückkehrte. Diesmal als Teil der arbeitenden Bevölkerung und nicht als vagabundierender Tourist auf der Durchreise, wohlgemerkt. Und halb erwartet (nicht erhofft) habe ich, dass sich mein Wien aus der Erinnerung als Täuschung herausstellt, als Reisebüro-Poster. Die homogenisierte, sterile Global City könnte sich herausschälen, als nackter Kern hinter der rot-weiß-goldenen Klassizismus-Fassade.

Und natürlich, da sind sie, die Spuren der entgrenzten, indifferenten Meta-Siedlung. Es ist irgendwie überall fast gleich, Metro zu fahren, ob die nächste Station nun Stephansplatz, Gare d‘Austerlitz oder Karlsplatz (Stachus) heißt. Im Supermarkt gibt es allerorten ähnliche Auslage. IPhone-Werbung und Nike-Schuhe, wohin das Auge blickt. Ein Döner kostet gemeinhin um die drei Euro. Die Fußgängerzonen der Städte sind besorgniserregend austauschbar. In den gentrifizierten Vierteln gibt es Superfoods, Yoga-Seminare und Privatkliniken. Und in den abgehängten Randbezirken: Sozialbau-Wohnungen, Marginalisierung und fragwürdige Zukunftsplanung.

Bei längerem Schlendern in der City befällt mich die schale Ahnung einer Kulisse, aufgestellt für die stetig in die Stadt strömenden Touristenmassen: Mozartkugeln (Salzburg ist ja nur 250 Kilometer entfernt), erstaunlich kostümierte Fremdenführer und grelle Schilder („Schnitzel available“). Es ist ziemlich geschmacklos, was man hier finden kann, bisweilen richtiggehend hässlich. Und auch die Hipster-Läden, die von Tokio bis Toronto die gleichen „Indie“-Marken an Mann und Frau bringen, scheinen der international kommunizierenden Generation die gleiche Stilsprache beizubringen.

Eindrücklicher wird die (geplante) Gesichtslosigkeit noch, wenn man die Innenstadt verlässt und mit der U-Bahn in den Südwesten fährt. Hier säumen größere Wohnbauten die Straßen, recken sich bisweilen sogar in den Himmel. Hier könnte man sich beinahe überall befinden. In fast ausnahmslos jeder größeren europäischen Stadt gibt es diese Viertel, die meistens reine Schlafstätten-Provider sind.
In einer Phase der Wohnungsnot wurden in Wien Großsiedlungen errichtet, die trotz einer Stigmatisierung willkommenen Wohnraum in ihrer Zeit schafften. Allerdings, die damaligen Lösungen scheinen mit kritischem Abstand betrachtet durchaus etwas befremdlich.

Mich haben insbesondere die konkaven Hochhaus-Riegel von Alterlaa (ab 1973, Harry Glück & Partner) in den Bann gezogen. Mit ihrem enormen Volumen und ihrer eigenartigen Form sind sie das Vermächtnis einer Zeit in der Stadtplaner, Politiker und Architekten noch keine Scheu vor dem großen Wurf hatten. Le Corbusiers Unité lässt grüßen und sicher hätten einige der Realos unter den Metabolisten (sofern es die denn gibt) eine Freude an diesen massiven Gebäuden. Man kann es nicht anders sagen, diese Wohnmaschinen sind beeindruckend. (Man munkelt ja, die Siedlung funktioniere ganz gut; manch einer fühle sich wohl in diesen Raumfabriken). Gerade eines der gewollt universellen Gebäude der Stadt wird zu einer ihrer unverwechselbaren Landmarken.

Generell hat der soziale Wohnungsbau in Österreichs Hauptstadt Tradition. Es ist keine lästige Pflicht, sondern ein stolzes Erbe der Stadt, die einmal „Rotes Wien“ genannt wurde.

Ich freue mich schon darauf, weitere Zeugen dieser Epoche zu besichtigen.

Inzwischen sammle ich immer wieder Momente, die ich so in wohl keiner anderen Stadt hätte erleben können. Bei einer Vorführung von „Komm süßer Tod“ im Freiluft-Kino auf dem Karlsplatz fühlt sich die laue Sommernacht unverwechselbar Wienerisch an. Morgens mit dem Bus mitten durch die Kernstadt zu fahren und dabei wunderschön artikulierte Fassaden zu betrachten. Zwischen Manner-Manufaktur und Ottakringer Brauerei durch die Straßen zu laufen.

Oder abends auf einer Brücke über den Fluss Wien zu spazieren und die Häuser zu sehen, die sich links und rechts in den Nachthimmel schieben und dabei die Menschen zu betrachten, wie sie am Würstelstand Dosenbier kaufen oder einen warmen Bissen zwischen die Zähne schieben.

So langsam sickert der Esprit der Stadt in meine Knochen. Manchmal kommt mir dann die Heimat in der Ferne doch wieder ganz nahe, déjà-vu am Prater oder sogar am Schloss Schönbrunn. Das hat aber nicht damit zu tun, dass sich alle Städte heute so aufs Haar gleichen, sondern einfach daran, dass München und Wien nicht komplett verschiedene Tonlagen anstimmen. Dass sich nach meinem Eindruck (und das ist auch schon meinem Vorgänger der Baumeister Academy bei Coop Himmelblau aufgefallen) Bayern und Österreich nicht nur geographisch naheliegen.

Unterdessen gewöhne ich mich auch Stück für Stück an den Arbeitsalltag im Büro Delugan Meissl. Bevor es losging, wusste ich nicht, was ich erwarten sollte. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass ich ein gewisses Maß an Nervosität hegte, bevor ich das erstmal das Büro betreten habe. Die Örtlichkeiten sind im Vierten Wiener Bezirk, in Laufweite des Naschmarkts und der Technischen Universität. Das Büro liegt in einem Eckhaus an einem kleineren Platz mit Begrünung an einer eher ruhigeren Straße. Delugan Meissl nimmt das Erdgeschoss, den zweiten und den vierten Stock des Gebäudes ein. Es sind schöne Räume, die mit raumhohen Fenstern nicht nur viel Tageslicht einlassen, sondern auf angenehme Weise den direkten Blick in die Nachbarschaft ermöglichen. Das ist einerseits natürlich ein Schaufenster, man kann als Passant sehen, wie die Architektur gemacht wird, sozusagen. Aber auch von innen nimmt man Beziehungen zum umgebenden Stadtviertel auf, Entwürfe entstehen also bewusst nicht im luftleeren Reinraum, sondern im urbanen Umfeld. Natürlich hat das nicht unbedingt einen unmittelbaren Einfluss auf das Ergebnis, aber sicherlich einen indirekten.

Nach und nach bekomme ich einen Überblick über die Projekte, die das Büro bearbeitet. Ich kann in verschiedenen Arbeitsphasen mitarbeiten, in unterschiedlichen Maßstäben – von ganz groß nach ganz klein – und sogar auf verschiedenen Kontinenten. Ich freue mich wirklich, dass ich die Gelegenheit habe, in einem so vielseitigen Büro ein Praktikum zu machen und so unterschiedliche Schauplätze der Architektur kennenzulernen.

Nach einer Weile habe ich es schließlich aufgegeben, hinter jedem Wiener Klischee die knallharte, ernüchternde Realität hervor-pulen zu wollen. Einerseits, weil manche Dinge einfach so sind, wie sie sind, andererseits aber auch weil für jeden entzaubernden Mythos der Stadt (zum Beispiel, dass der Kaffee hier besonders gut sei) mindestens ein neues Charakteristikum hinzukommt. Mir fällt auf, wie multikulturell die Metropole ist. Und das ist etwas, das man vielleicht ausblendet, wenn man auf der Suche nach der österreichischen Quintessenz ist.

Nach einem Monat ist Wien für mich auf jeden Fall alles andere als eine gesichtslose, graue urbane Agglomeration. Sicherlich flackert hin und wieder eine gewisse Vertrautheit auf, ein Wiedererkennen, aber das liegt vermutlich eher daran, dass ich mich immer mehr an meinem temporären Wohnort daheim fühle, und anderseits an der tatsächlichen Ähnlichkeit zu meiner Heimatstadt, nun einfach nicht zu leugnen ist. Aber einen schönen starken Espresso in der American Bar von Adolf Loos trinken, das kann man wirklich nur in Wien.

Die Baumeister Academy wird unterstützt von Graphisoft, der BAU 2017 und der Schöck Bauteile GmbH

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