03.09.2015

Öffentlich

Neue „Frontlinien“ überall

Alexander Gutzmer

Der Blick ins Deutschland und Europa dieser Tage offenbart Regionen voller Brüche. Scheinbar längst Vereintes divergiert radikal auseinander. Vermeintlich klare zivilisatorische Übereinkünfte werden mit Verve über Bord geworfen. Überall auseinanderdriftende Lebensmodelle und Wertesysteme.

Am radikalsten deutlich wird dies momentan natürlich anhand der Flüchtlingsdebatten und ihrer Bodensatz-Anhängsel, den Attacken auf Asylbewerber und ihre Unterkünfte. Hier wie auch in den XYZ-egida-Demonstrationen zeigt sich, wie wenig klar das Fundament unseres Zusammenlebens ausdefiniert ist. Den Gedanken einer ein für alle mal verwirklichten zivilisatorischen Einheit können wir, bezogen auf den Binnenraum Deutschland, noch mehr aber auf Europa als Ganzes, vorerst vergessen. So bitter diese Einsicht auch ist. Wo wir Einheit vermuteten, verlaufen zahllose Frontlinien – und werden ständig neue konstruiert.

Vor diesem Hintergrund wirkt es ziemlich vorausschauend, dass der Kurator der nächsten Architekturbiennale, Alejandro Aravena, sein Diskursevent 2016 unter den Titel „Reporting from the Front“ stellen wird. Gemeinsam mit Biennale-Chef Paolo Baratta verkündete Aravena das jetzt in Venedig. Um die „Frontlinien der gebauten Umwelt“ geht es dem Kurator. Es ist zu vermuten, dass der Chilene diese zunächst in Schwellenländern wie eben Chile, Brasilien oder Indien sucht. Doch die Ereignisse dieser Tage zeigen: So weit brauchen wir nicht zu blicken, um räumliche Frontbildungen zu entdecken. Ich hatte bereits auf das Flüchtlingsheim als bauliches Kampfstatement (und zunehmend umkämpftes Gebiet) verwiesen. In einem grundsätzlicheren Sinn ist aber der urbane Raum insgesamt eine Zone der permanenten, durchaus nicht immer friedlichen Auseinandersetzung. Nicht umsonst kursiert der Begriff der „No-Go-Areas“.

Bezogen auf die Frontlinien, die Deutschland insgesamt (immer noch und immer wieder) teilen, ist zu konstatieren: Diese sind, auch wenn wir das lange nicht wahrhaben wollten, wirkmächtiger denn je. Sigmar Gabriel hat ja recht, wenn er von räumlich konstituierten Gegenden des Düsteren spricht, von „Dunkeldeutschland“. Wobei darunter nicht Ostdeutschland zu verstehen ist, und das war auch nicht Intention von Gabriel. Klar ist vielmehr: Es gibt Mikro-Räume, in denen jeglicher Gedanke an Kultur, Zivilisation und Lebensästhetik deplatziert wirkt. Rechtsextreme Stammtische zum Beispiel. Deren großräumliche Ausweitung haben Parteien wie die NPD zum Ziel. Der Stammtisch wird so zum Raumprinzip. Und wenn der gemeine Neonazi mit seinen Programmen der nationalistischen Bereinigung von Städten und Dörfern mal loslegt, dürften am Ende  entkulturalisierte Banalräume kollektiver Geistlosigkeit stehen. Dunkeldeutschland als perverses politisches Ziel.

Das macht auch die spezifische Tragik der Flüchtlingshasser aus. Dass sie zwar genau wissen, was sie nicht wollen (alles Fremde nämlich). Aber keinen blassen Schimmer davon haben, was die in ihrem Sinne „bereinigten“ Regionen dann eigentlich auszeichnen soll. Weder wirtschaftlich, noch politisch, ästhetisch – oder eben auch architektonisch. In einer globalisierten Welt wären es Räume ohne Identität. Darin liegt die Absurdität der Pegida-isten: Sie faseln viel von nationaler Identität, ihre angstgetriebene Hysterie ist aber Ausdruck einer Identitätslosigkeit. Der Mangel an Eigenem gebiert Hass auf Fremdes.

Und das hat nun schon auch etwas mit Ost- und Westdeutschland zu tun. Natürlich ist es zu einfach zu sagen, der Flüchtlingshass beschränke sich auf die (nicht mehr ganz so) „neuen“ Bundesländer. Das tut er ja nicht, Stichwort Salzhemmendorf. Aber er tritt im Osten offenbar überdurchschnittlich häufig auf, wie auch der Journalist und Flüchtlingsexperte Olaf Sundermeyer kürzlich bei Maischberger berichtete. Und das interpretiere ich als Resultat einer Identitätskrise, die zwar nicht originär ostdeutsch ist, aber dort vielleicht ausgeprägter zutage tritt. Regionale Selbstbeschreibungen werden im Zuge der postmodernen Globalisierung fragil – überall. Und Teile des Ostens verfügen eben nicht über eine Identität, die diesem Erosionsprozess ähnlich robust begegnen können wie, sagen wir, Oberbayern. (Womit ich nicht sagen will, dass die bayerische Volksseele mir sonderlich nahe stünde. Aber stark ist sie.)

Vielleicht war dies nach der Wende nicht anders möglich. Wo hätten die Identität bildenden „großen Geschichten“ im Sinne Lyotards denn herkommen sollen angesichts einer Kultur, die damals ja einhellig als Resultat einer politischen Verirrung verstanden und entsprechend konsequent abgewickelt wurde? Die Wende ist nun mal so gelaufen, wie sie gelaufen ist. Wir sollten aber den Mut haben, die Möglichkeit fragilerer Identitäten in ostdeutschen Regionen nicht aus Gründen der political correctness von vornherein zu leugnen.

Dies ist keine originär architektonische Überlegung. Und ich glaube auch nicht, dass die beschriebene Identitätskrise sich mit architektonischen oder städtebaulichen Mitteln lösen lässt. Aber es hilft vielleicht, sie als Problem zu formulieren. Und ich könnte mir vorstellen, dass vor diesem Hintergrund zum Beispiel die architekturbezogene Siegermentalität, mit der ostdeutsche Vorzeigegebäude wie der Palast der Republik platt gemacht wurden, in einem problematischeren Licht erscheinen. Denn damit wurden weitere „Frontlinien“ aufgemacht, derer es nicht bedurft hätte.

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