28.06.2019

Gewerbe

Wie ein Eisbär auf der Scholle


1,3 Architekten auf 1 000 Einwohner

Dieser Freitag war sonnig und warm. Einer der Nachmittage in Berlin, an dem die Stadt noch etwas grüner, luftiger und lässiger wirkte, als in den Tagen zuvor. Von der obersten Etage des gerade fertiggestellten Rohbaus bot sich mir mit den anderen Gästen des Richtfestes eine Aussicht über die ganze Stadt. Im Osten die Hochhäuser am Alex, im Westen die um den Breitscheidplatz. Alles wirkte von hier geordnet und wohl gefügt.

Nach dem Richtspruch ist die Stimmung bereits ausgelassen, als sich ein Rechtsanwalt zu uns an den Tisch setzt. „Na, im September ist es das ja wohl gewesen mit der HOAI!“ eröffnet er offensiv das Gespräch. „Dann ist die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure Geschichte.“ Seine Schadenfreude traf mich unvorbereitet. Wow, ich konnte physisch das Knacken und Knallen hören, als das Eis unter meinen Füssen wegbrach. Ich kam mir vor, wie ein Eisbär, der auf einer einsamen Scholle aufs offene Meer hinaus treibt. Mit einem Schlag war ich wieder in der Realität angekommen.

Die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure läuft bereits seit Jahren. Es geht um eine Liberalisierung des Marktes, Planermarktes. Klar, die alte Tante HOAI sollte sowieso mal wieder an die veränderten Bedingungen von hier und heute angepasst werden. Große Veränderungen wie BIM oder die Phase Null werden von ihr nicht richtig abgebildet. Und Honorare für größere Bauvorhaben sind heute bereits frei verhandelbar. Aber eine komplette Abschaffung der verbindlichen Mindest- und Höchstsätze für die Honorare kann ich mir auf meiner Eisscholle nicht vorstellen. Viel zu häufig hat die Berufung auf diesen Schutzheiligen aller Architekten und Ingenieure unsere schüttere Verhandlungsposition in Vertragsgesprächen gestärkt und uns ein halbwegs auskömmliches Honorar beschert.

Das soll nun der Vergangenheit angehören? Mir kommen die Horden ausgehungerter Eisbären in den Sinn, die in diesem Winter dabei gefilmt wurden, wie sie in den Mülltonnen einer düsteren sibirischen Kleinstadt am Rande des Polarkreises nach Essbarem wühlten. Im Klageverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof hält der Generalanwalt – eine Art Jeanne d’Arc für den entfesselten Markt – die Verbindlichkeit der Mindest- und Höchstsätze der HOAI für unvereinbar mit dem EU-Recht. Er empfiehlt sie komplett abzuschaffen und alle Planungsleistungen dem freien Wettbewerb auszusetzen.

Der vermeintlich günstiger arbeitende Architekt aus den Niederlanden (0,6 Architekten pro 1000 Einwohner, keine verbindliche Honorarordnung) oder der Stadtplaner aus Rumänien (0,4 Architekten pro 1000 Einwohner, keine verbindliche Honorarordnung) soll seine Leistungen auch in Deutschland (1,3 Architekten pro 1000 Einwohner, mit verbindlicher Honorarordnung) billiger anbieten dürfen. Auch kleinere inländische Architekturbüros mit niedrigeren Kosten sollen sich dadurch Wettbewerbsvorteile verschaffen können, um sich am Markt zu etablieren. So die Theorie.

Planung auf der Seite der Konzerne

Eine auf den ersten Blick einleuchtende Position. Und trotzdem eine kolossale Fehlinterpretation der tatsächlichen Verhältnisse und ein wirtschaftspolitischer Frontalangriff auf die hiesige Baukultur. Denn welchen messbaren Wert hat ein gelungenes Haus oder eine gute Stadt? Kultur und Lebensqualität bieten hohe Attraktivität, lassen sich aber kaum marktwirtschaftlich ausrechnen. Fest steht, dass Architekten und Planer maßgeblichen Anteil daran haben, wie gut unsere gebaute Welt ist. Die Verantwortung der Architekten geht demnach über das eigentliche Vertragsverhältnis mit ihrem Auftraggeber hinaus. Sie sind auch dem Gemeinwohl verpflichtet.

Deshalb verfolgt die HOAI im Paket mit anderen Maßnahmen wie Berufsordnung, Fortbildungspflicht oder Qualifikationsnachweisen das Ziel, die Qualität von Planung für die Gesellschaft zu regeln und zu sichern. Ähnliches gilt für die Leistungen anderer Freier Berufe, wie Ärzte, Rechtsanwälte oder Steuerberater. Die Patienten und Klienten bezahlen mit einem angemessenen Honorar eine Leistung, auf die sie sich verlassen müssen, weil sie deren Qualität nur ansatzweise selber beurteilen können.

Sollte sich die Europäische Kommission durchsetzen, werden die Honorare überwiegend sinken. Die Büros werden weniger Mitarbeiter anstellen und niedrigere Löhne zahlen. Dadurch werden sie weniger qualifizierte Mitarbeiter gewinnen und Wissen und Einfluss verlieren. Eine Spirale nach unten setzt ein. Kleinere Architekturbüros werden es schwerer haben, ihre wirtschaftliche Basis zu finden. Größere Büros werden versuchen, Planung nach wirtschaftlichen Kriterien zu vereinfachen. Dann wird Planung stärker auf die Seite der Konzerne wandern. Alles in allem wird die Planerlandschaft ärmer werden.

Der Eisbär treibt dem Untergang entgegen

Wie das aussieht, ist in den USA oder in England zu sehen. Dort gibt es nahezu keine kleinen oder mittelständischen Büros, etwa halb so viele Architekten wie in Deutschland und infolgedessen deutlich weniger Planungsqualität und -kultur in der Fläche. Dort gibt es bereits heute weniger Wissen um gelungene Städte, weniger Institute, die Stadtforschung betreiben, weniger Lehrstühle, weniger Medien, die sich für Baukultur interessieren, weniger Stadtplaner, Denkmalschützer, Architekturgalerien und -museen, die Qualität definieren und einfordern, weniger Genehmigungsbehörden, infolgedessen weniger urbane Lebensqualität und weniger Nachhaltigkeit. Der Wille zu und das Wissen um Baukultur und das gute Leben ist dort in der Breite einfach weniger vorhanden.

In vielen Ländern Europas haben die Architekten und Ingenieure bereits viel von ihrer Kompetenz abgegeben. Sie liefern gerade noch einen Satz Pläne. Der Auftraggeber sucht sich dann einen Unternehmer und der plant baufähig und fertig. Heute schuldet der Architekt in Deutschland noch das fertige Werk, ist für die Ausschreibungen, die Bauüberwachung und am Ende für das ganze Gebäude verantwortlich. Noch brauchen also die hiesigen Büros viel Kompetenz und Wissen, um erfolgreich zu sein.

Ohne kompetente Planer, die lenken, dirigieren, regeln, festlegen, schützen, erneuern, erfinden, anpassen und leiten kann keine Planung gelingen. Und ohne Planung gibt es keine gelungene Stadt und kein gutes, faires Leben für Viele. Gelungene Städte basieren auf machtvollen, regulativen Eingriffen. Der liberalisierte Markt kann hier und da viel richten. Aber die ungeregelten Kräfte des Marktes alleine haben noch nirgends eine gute Stadt gebaut. Auch Klimaschutz ist ohne machtvolles Regulieren nicht möglich. Der Eisbär auf seiner Scholle ist zwar frei, treibt aber gen Süden unweigerlich seinem Untergang entgegen.

Schutzbedürftige Träger der Baukultur

Wir brauchen eine stringentere Politik, die die Interessen des Gemeinwesens vertritt und für die Baukultur die erforderlichen Entfaltungsmöglichkeiten schafft.

Mir geht es um eine faire und sinnvolle Balance zwischen denen, die für die Planung und den Bau unserer Städte verantwortlich sind: Den privaten Unternehmern, den Planern, den öffentlichen Institutionen und den Bürgern.

Die Architekten können diese widerstreitenden Kräfte verbinden und erfüllen damit eine wichtige Funktion innerhalb eines auseinanderstrebenden Gefüges.

Sie leisten zu einem guten Teil die Kärrnerarbeit für die Grundlagen unserer Gesellschaft und tragen maßgeblich zum wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Erfolg in Deutschland bei. In diesem Spiel der Kräfte sind die Planer schutzbedürftig. Denn sie sind zu einem guten Teil die Träger der Baukultur.

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