03.06.2021

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Schönheit


Warum gelingt es nicht häufiger, Städte mit schönen Plätzen und hoher Lebensqualität zu schaffen?

Warum sehen heutige Neubauquartiere nicht genauso aus wie in der Gründerzeit? Wie gelingt es, Städte mit schönen Plätzen und hoher Lebensqualität zu schaffen? Unser Kolumnist Eike Becker hat eine Vision wie wir die Schönheit in unsere Städte zurückholen.

Es gibt sie. Die Orte, die uns zeigen, wie schön Städte sein können. Zumeist liegen die Lieblingsstädte deutscher Planer in Italien, Oberitalien, in der Toskana. Eingebettet in hügelige Landschaften, unterteilt durch Zypressenalleen, zumeist oben auf einem Hügel, mit wundervoll proportionierten Plätzen vor reich ornamentierten Kirchenfassaden, bevölkert von entspannten älteren Herrschaften, die auf den Bänken geduldig den Lauf der Welt vorbeiziehen lassen.

Auch die Wohnquartiere der Gründerzeit strahlen mit ihren prächtigen Fassaden, baumbewachsenen Straßen und Plätzen, vielfältigen Läden, hohen Eingängen und Wohnräumen große Lebensqualität aus.

Warum sehen heutige Neubauquartiere nicht genauso aus? Nicht so schön? Nicht so menschlich, nicht so voller sonniger, runder Lebensqualität?

Die Antwort ist einfach. Weil heute keine Renaissance Menschen entscheiden. Und wir auch nicht mehr im Feudalismus leben. Und kein Kaiser mehr Türme für die Eckgebäude verordnet. Weil andere Menschen nach anderen Kriterien entscheiden und vorrangig andere Bedürfnisse erfüllt werden. Dazu zählen zum Beispiel Budgets, Bautechniken und -materialien oder Produktionsmethoden.

Das Wissen um gute Städte und Quartiere und guten Wohnungsbau ist vorhanden. Jahr für Jahr kommen neue Erkenntnisse dazu.
Trotzdem bleibt der Eindruck, dass Wohnungsarchitektur heute viel zu häufig langweilig und uniform ist. Das immer wieder ähnliche Grundrisse für 2-, 3- und 4-Zimmerwohnungen mit Minimalfassaden kombiniert werden.

Woran liegt das? Warum gelingt es nicht häufiger, Städte mit schönen Plätzen und hoher Lebensqualität zu schaffen? Warum sehen heutige Städte an vielen Stellen auf so ähnliche Weise hässlich aus?

Die Antwort ist einfach. Der Bau von attraktiven Städten mit lebendigen Quartieren ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe.

„Edle Einfalt und stille Größe“

Die Nachfrage nach bezahlbaren Wohnungen in den Metropolen hält unvermindert an und dehnt sich auf die mittelgroßen und kleineren Städte aus. Die Kommunen stehen unter enormem politischen Druck, das Wohnungsproblem zu lösen. Sie sind häufig mit den Planungsaufgaben überfordert. Modellvorhaben, Wettbewerbe, Gestaltungsbeiräte, Forschung und Wissenstransfer sollten Abhilfe schaffen. Aber diese qualitätssichernden Maßnahmen werden immer noch zugunsten von Geschwindigkeit übersprungen.

Hohe Baukosten und enorme Preissteigerungen beim Bauland führen zu Einsparungen bei Baumaterialien und der Gestaltungsqualität. Das geht zu Lasten der Schönheit.
Aus der Sicht der Baukultur gibt es endlos viele Verbesserungsmöglichkeiten. Aufgeteilte Zuständigkeiten führen allerdings dazu, dass sich kein Einzelner dafür verantwortlich fühlt. Jeder zeigt mit dem Finger auf die anderen: „Die sind es gewesen!“

Trotz aller Beteuerungen steht nicht die Nutzerperspektive im Vordergrund. Unterschiedliche Eigentumsstrukturen, Regelwerke und ökonomische Interessen führen zu vielfältigen Brüchen und schwachen gestalterischen Lösungen.

Für Winckelmann stand die Suche nach dem Schönen stets im Mittelpunkt. Er sprach von „edler Einfalt und stiller Größe“.

Schönheit ist im politischen Kontext kein Kriterium

Das änderte sich in der Moderne. Das Schöne wurde zu dem, von dem man sich keinen Begriff mehr machen kann. Das Wort wurde ersetzt durch das Erhabene, das Hässliche, das Interessante oder das Authentische, das Charakter- oder Fantasievolle. Seit über 100 Jahren gibt es keine Tradition mehr, keinen Kanon des Richtigen und Falschen. Immer wieder wird bei der Beurteilung eines Kunstwerks oder Gebäudes die Frage nach dem Notwendigen gestellt. Und nach dem Überflüssigen. Immer wieder. Während eines solchen Prozesses wird das Überflüssige konsequent ausgemerzt. Dazu gehören auch Ornamente.
Für Adolf Loos war das Ornament vergeudete Arbeitskraft, vergeudete Gesundheit, vergeudetes Material und vergeudetes Kapital.
Alle Entscheidungen wurden von da an auf ihren Zweck, auf ihre rationale Nutzbarkeit überprüft und alles in diesem engen Sinne zweckfreie wurde dabei Schritt für Schritt eliminiert. Das führt zu einer radikalen formalen Verarmung. Offensichtlich wird „das Unpraktische des erbarmungslos Praktischen“, wie es Adorno formuliert.

Die Entscheidungen für heutige Quartiere treffen nicht Philosophen, Soziologinnen, Opernsänger, Postbotinnen oder Künstler, auch nicht Mütter, Väter oder Kinder, die dort leben wollen, sondern Projektentwickler, Makler, Architektinnen, Stadtplanerinnen und Politiker. Alle sind vorrangig rationale Optimierer nach ihren jeweiligen Kriterien. Viele Siedlungen entstehen infolgedessen in Angst. Angst, Fehler zu machen, den Vorgaben nicht zu entsprechen oder die Ziele zu verfehlen. Schönheit und Poesie sind aus diesem Kriterienkatalog über die Jahre immer weiter nach hinten gewandert. Fantasie, Fehlanzeige.

Plätze im menschlichen Maßstab, wohlproportionierte Fassaden

Für die Stadtplanerinnen muss eine gute Stadt auch mit schlechter Architektur funktionieren. Die Bauaufsicht muss das Baurecht umsetzen, unabhängig davon, ob ein Haus schön oder hässlich ist. Die Politik ist mit Stadtplanung eher überfordert. Schönheit ist auch im politischen Kontext kein Kriterium. Projektentwicklerinnen machen gerne, was sie kennen und am liebsten keine Experimente. Möglichst schnell und günstig bauen und möglichst hochpreisig verkaufen. Schönheit ist ja „Geschmacksache“. So sind die Architektinnen verantwortlich für alles, aber weisungsgebunden. Die Investorinnen sind renditeorientiert, für sie sollte alles praktisch und pflegeleicht sein.

Adorno hat sich auch gefragt, inwiefern durch die Architektur ein „bestimmter Zweck Raum werden [kann], in welchen Formen und in welchem Material“. Und wie daraus „mehr werden [kann], als das arm Zweckmäßige.“

Die Entwicklerinnen von Quartieren können sich nicht mehr naiv nur auf die eigenen, zumeist ökonomischen Ziele beziehen. Sie stellen kein Tauschobjekt her, sondern Lebensraum. Sie müssen über ihren eigenen Bereich hinausblicken und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden.

Stadtplanung und Städtebau haben gesellschaftlichen Visionen zu folgen.

Für mich ist es die soziale, klimaneutrale Stadt für die vielfältige, offene Gesellschaft, für die es gilt, Heimat zu schaffen.

Und das geht nicht ohne Plätze im menschlichen Maßstab, wohlproportionierte Fassaden, großzügige Eingänge und Schaufenster oder gepflegte Park- und Freizeitanlagen.

Der Schönheitsbegriff als Kampfzone

Ohne Schönheit geht das nicht. Aber warum können wir nicht dasselbe tun, was die Architekten des 19. Jahrhundert gemacht haben? Einfach zurückgreifen auf die Säulen, Pilaster, Kanneluren und Kapitelle der klassischen Architektur und ihre Schönheit zurückholen?

Die Superferenz heutiger Gesellschaften, ihre Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen, das Nebeneinander diverser Sphären der Ästhetik und der stetige Wandel werden besonders deutlich in einer Stadt wie Berlin. Aus diesen Erfahrungen konstruieren sich heutige Vorstellungen von Schönheit und Ästhetik.

Deshalb gibt es in post-modernen Demokratien keine eindeutig besetzte Deutungshoheit mehr über „das Schöne“ wie zu Zeiten des Feudalismus. Der Begriff Schönheit ist umkämpft von verschiedenen Interessengruppen. Auch Identitätspolitik spielt hier eine Rolle.
Deshalb können Städte für heutige Gesellschaften nicht aussehen wie Renaissancestädte oder Quartiere des 19. Jahrhunderts. Auch nicht wie die UNESCO-Welterbe Siedlungen der Berliner Moderne.

Aber in der Ambivalenz der heutigen Erscheinungen können wir das Prägnante erkennen, aus dem die Fantasie mehr werden lässt als das arm Zweckmäßige.

Mehr Kolumnen von Eike Becker lesen Sie hier. Seine Arbeit als Architekt finden Sie auf eikebeckerarchitekten.com

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