15.04.2021

Öffentlich

Grenzenlos


Unzeitgemäße Zwangsmaßnahmen

Mauern und Grenzen sind allgegenwärtig. Auch wenn nationalstaatliche Grenzen in vielerlei Hinsicht keinen Einfluss mehr haben, Städte, Infrastrukturen und Unternehmen sich über ihre territorialen Grenzen hinweg entwickeln – sie schaffen Abgrenzung nach außen und innen, befeuern Konflikte, die ohne sie deutlich besser gelöst werden könnten, und werden im Besonderen aktuell geschlossen. Unser Kolumnist Eike Becker hat die Vision von einer Welt ohne Grenzen.

Im Sommer vor der Pandemie fahre ich mit Kamal Mukaker, meinem palästinensischen Gastgeber, durch Beit Jala und Bethlehem an der Mauer vorbei, durch die Zonen A, B und C zum Herodion, dem Palast von Herodes. Ein israelisches Militärlager am Fuße des Berges soll für Sicherheit sorgen. Auch oben in der Burgruine treffen wir auf Gruppen israelischer Soldatinnen und Soldaten. Sie scheinen für den Abend eine Art Parade zentimetergenau vorzubereiten.

Unser Blick streift über eine karge, vor Hitze flirrende Landschaft. Von unserem Aussichtspunkt können wir auf den benachbarten Hügeln gut die mit soliden Mauern umgrenzten israelischen Städtchen und in den flachen Tälern die schütteren palästinensischen Siedlungen erkennen.

Innerhalb von wenigen Jahren ist dort durch die israelische Siedlungspolitik ein Gewirr von ineinander geschobenen Territorien entstanden, die sich zu ihrer Umgebung exklusiv verhalten. Illegale Siedlungen gemäß geltendem Völkerrecht.

Ein Slow-Motion-Krieg mit immer weiter ins Westjordanland geschobenen Grenzen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Wie sehr ich mich bereits an das grenzenlose Europa gewöhnt hatte, wurde mir von einem brasilianischen Offizier nach meiner Ankunft am Flughafen von Rio de Janeiro aufgezeigt. Er wollte mich ohne Reisepass gleich wieder ins nächste Flugzeug zurück nach Deutschland schicken. In den USA behandelten sie seine Landsleute nicht anders, war seine Begründung. Erst die deutsche Botschaft und seine resolute Vorgesetzte konnten ihn mit vereinten Kräften gegen Ende eines langen, verhandlungsreichen Tages überzeugen, mich einreisen zu lassen. Ein Mini-Bolsonaro lange vor Bolsonaro.

Aber in einem Punkt hatte er Recht. Ich erinnere mich noch heute ungern an die erniedrigenden Einreisen in die USA. Wie ein Bittsteller wird jeder Einreisende am John F. Kennedy International Airport behandelt. Zumeist überheblich und einschüchternd. Trumpismus lange vor Trump.

Wer erlebt hat, wie ein DDR-Grenzsoldat einen vollgepackten Familienwagen samt Insassen auf eine bedrohlich-zynische Weise, inklusive Unterbodenspiegel und Ausbau der Rücksitze, untersucht hat, vergisst die eigene Angst und Hilflosigkeit nicht.

Diese Art von Grenzen sind ganz und gar unzeitgemäße Zwangsmaßnahmen. Sie gehören abgeschafft. Offene, inklusive Städte können erst ohne Schlagbäume, Grenzhäuschen, Videoüberwachung, Zäune, Mauern und Wachmannschaften gedeihen.

Entbehrliche Definition

Auch ohne Mauern können Staaten und Territorien ihre inneren und äußeren Angelegenheiten kooperativ regeln; können Wirtschafts- und Umweltgesetze verabschiedet werden, Sozialsysteme aufgebaut und souverän die Teilhabe daran gewährt oder verweigert werden. Grenzen definieren weder Zugehörigkeiten noch das Steuer- oder Wahlrecht. Weit über eine Milliarde Touristen bewegen sich nahezu ungehindert über Grenzen hinweg. Sie werden als Wirtschaftsfaktor begriffen und nicht als Einwanderer in Sozialsysteme.

Seit dem Mauerfall 1989 sind auf der Welt viele Kilometer neuer Mauern entstanden. Mauern aufgrund staatlicher Konflikte (Zypern, Korea, Indien und Pakistan), Mauern zur Verhinderung ungewollter Einwanderung (Ungarn, Türkei, USA) und Mauern wegen ethnischer und politischer Konflikte (Palästinensergebiete im Westjordanland und israelische Siedlungen, Saudi-Arabien mit Irak, West Sahara und Marokko). Angesichts dieser Grenzregime erscheinen europäische Überlegungen, sich selbst zur Festung auszubauen, als abwegig. Grenzen sind unmenschlich und unzivilisiert. Sie wirken zerstörerisch nach innen und außen. Dazu sind enorme Aufwendungen für Grenzposten, Bewachungsanlagen, Personal und Gefängnisse erforderlich, die befestigte Grenzen nach sich ziehen.

Überschreitende Metropolregionen

Die Sicherung von Territorien macht einfach keinen Sinn. Physische Grenzen können heute Zugehörigkeiten nicht mehr definieren. In Europa trifft das bei vielen auf Verständnis. Welch ein Gewinn an Freiheit und Lebensqualität hat der Wegfall der Grenzen innerhalb des Schengen-Raumes gebracht! In vielerlei Hinsicht haben nationalstaatliche Grenzen keinen Einfluss mehr. Das betrifft die Folgen der Klimakatastrophe und die Ausbreitung von Pandemien. Die Auswirkungen von Finanzkrisen, die Geschäfte multinationaler Konzerne oder die Aktivitäten organisierter Verbrecher. Mode, Musik, Architektur, Ideen und Konsum verbreiten sich über alle Grenzzäune hinweg.

Auch die Infrastrukturen wie Eisenbahnen und Flugverkehr, Autobahnen, Satelliten, Gas- und Ölpipelines, Seefracht und Glasfasernetze sind transnational angelegt und können nur so funktionieren. Gesellschaften mit ihren Städten sind deutlich erfolgreicher, wenn sie auf den Ausbau ihrer Netzwerke und Infrastrukturen setzen. Und auf Zusammenarbeit. Große Unterschiede diesseits und jenseits von Grenzen sind inakzeptabel und streben nach Ausgleich. Betrachtet man die großen Städte heute, so reicht es nicht mehr aus, allein auf das Gebiet innerhalb ihrer politischen Grenzen zu schauen. Sie sind die Zentren von Metropolregionen, die weit über ihr eigentliches Territorium hinaus gewachsen sind. Mit ihrer Infrastruktur vernetzen sie große Gebiete und unterschiedliche urbane Zentren.

Welt ohne Grenzen

Zur Fusion von Berlin und Brandenburg ist es 1996 nicht gekommen. So wächst die Hauptstadt, wie Hamburg, München und die meisten anderen Städte, über die eigenen Grenzen hinaus ins Umland hinein. Aber dort entscheiden andere über die Planung. Egoismen führen zu schwierigen Abstimmungen und unkoordiniertem Wachstum. Paris ist territorial kleiner als Berlin, versammelt aber über zwölf Millionen Menschen in der Region „aire urbaine de Paris“. Wenn wir nicht Amsterdam allein betrachten, sondern die Randstad, dann sind dort sieben Millionen Menschen versammelt. Für München sind es sechs Millionen, für das Perlflussdelta mit Hongkong, Macao, Shenzhen 60 Millionen, Tokio 40 Millionen usw.

Diese Metropolregionen wachsen schnell und vernetzen sich über ihre Infrastrukturen. Und die sind mächtiger als Grenzen. Die Straßen haben das Römische Reich Jahrhunderte überdauert. Die Seidenstraße ist so viel erfolgreicher als die Chinesische Mauer. Ein S-Bahn-Anschluss von Naumburg nach Leipzig, ein Tiefseehafen in Triest oder Solarkraftwerke in Afrika sind so viel wirkmächtiger als kontrollierte Grenzen.

Heute machen viele Länder ihre Grenzen dicht, schließen wie mittelalterliche Städte die Tore vor der Pest. Aber das nützt ihnen nichts. Die mutierten Viren sind bereits da, schneller als die Übergänge geschlossen werden können. Grenzen sollen Zollgrenzen sein. Drogen, Ideen und Gewalt draußen halten, Schutz bieten vor Imperialismus, Kapitalismus, Sozialismus, Kolonialisierung. Sie sollen die Einwanderung in Sozialsysteme erschweren sowie Zuzug und Wegzug reduzieren. Aber wo funktioniert das? Und wie hoch ist der Preis, diese Grenzregime aufrechtzuerhalten? Immer sind sie teure, angstvolle oder aggressive und nicht erfolgreiche, selbstvergiftende Maßnahmen. Sie schaffen Abgrenzung nach außen und innen und befeuern Konflikte, die deutlich besser gelöst warden könnten, wenn es sie nicht gäbe. Meine Vision ist eine Welt ohne Grenzen.

Mehr Kolumnen von Eike Becker lesen Sie hier. Seine Arbeit als Architekt finden Sie auf eikebeckerarchitekten.com

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