Jeden Monat ein Gebäude – das hat sich Baumeister-Academy Gewinnerin Natalie vorgenommen. Sie hat sich dabei Architektur ausgesucht, die sich von den üblichen Klassikern absetzt. Natalies Reihe setzt sich mit der Wiener Stadthalle fort. 

Unweit des Wiener Gürtels fügt sich Österreichs größte multifunktionale Veranstaltungsstätte in den dicht bebauten 15. Bezirk ein. Während einer Führung durch die menschenleere Wiener Stadthalle offenbart sich eine kühne und zugleich elegante Architektur, die sonst Konzerten, Radrennen oder gar dem European Song Contest Vortritt gewährt. Einst als Symbol des Wiederaufbaus gefeiert, scheint das nahezu unangetastete Gebäude auch 60 Jahre nach der Eröffnung nicht an kulturpolitischer Bedeutung verloren zu haben.

Die Wiener Stadthalle bildet mit dem Erweiterungsbau von den Architekten Dietrich Untertrifaller eine gestalterische Einheit. Im Vordergrund erstreckt sich die Stahlplastik von Künstler Wander Bertoni „Die Bewegung“.
Die zur Mitte abgesenkte Decke prägt den Querschnitt der Halle.
Riesige Vorhänge und bewegliche Tribünen sorgen für Flexibilität und ermöglichen unterschiedliche Bühnenkonstellationen
Die Liebe im Detail steckt auch in den farbigen Garderobenbändern.
Rainer kombiniert Glasfassaden, außenliegende Betonstützen und Aluminiumverkleidungen mit bunten Zugängen.
Kunstwerke wie etwa die Marmorintarsien an den Wänden der Ehrenloge von Bildhauer Heinz Leinfellner ergänzen die funktionale Architektur.

Wandlungsfähige Halle

Alle Bilder von Natalie Burkhart

Im Jahr 1952 gewann der österreichische Architekt Roland Rainer vor seinem finnischen Konkurrenten Alvar Aalto den Wettbewerb für einen flexiblen und wandelbaren Hallenkomplex. Herzstück ist die hundert mal hundert Meter weit gespannte Haupthalle. In der Mitte ist das Dach abgesenkt, es folgt der Neigung der Tribünen. Mit dem sägezahnförmigen Querschnitt kontrolliert Rainer nicht nur Akustik, Lüftung und Kühlung, sondern verleiht dem Raum bei all seiner Riesenhaftigkeit doch ein menschliches Maß. Etwa viermal pro Woche füllen bis zu 16.000 Zuschauer den Raum und ordnen sich amphitheatralisch oder rings um die Bühne an. Dank elektrisch ausziehbaren Tribünen und speziellen Vorhangsystemen wird die Halle den Anforderungen eines breiten Spektrums an Veranstaltungen gerecht. Rainer zeigt neben Stahl, Beton und Glas auch Luft- und Elektroleitungen offen. Er präsentiert das Gebäude mit all seinen Wänden, Decken und Tribünen als eine funktionelle Einheit. Nicht zuletzt befreien spiegelnde Materialien, farbige Oberflächen und Kunstwerke den Baukörper von Schwere oder Monotonie.

Demokratiesymbol?

Die konstruktive Sprache der Wiener Stadthalle ist zurückhaltend, tritt aber als symbolische Architektur umso deutlicher in Erscheinung: Sie ist Identitätsträger für ein modernes und demokratisches Österreich. Gleichzeitig ist sie Österreichs wichtigste Veranstaltungsstätte mit jährlich einer Million Besucher aus dem In- und Ausland.

Ausstellungsheinweis: Rainer zählt zu den bedeutendsten österreichischen Architekten des 20. Jahrhunderts. Das Architekturzentrum Wien setzt sich noch bis zum 07. Januar 2019 im Rahmen einer Ausstellung kritisch mit seinem Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Dass die Stadthalle als Zeichen der Zeit ein demokratisches Österreich widerspiegelt, lässt eine gewisse Anpassungsfähigkeit Rainers an die verschiedenen politischen Systeme vermuten.

Die Baumeister Academy ist ein Praktikumsprojekt des Architekturmagazins Baumeister und wird unterstützt von GRAPHISOFT und der BAU 2019.

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