01.04.2020

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COVID-19 als Beschleuniger der Digitalisierung?

Coronavirus COVID-19 Global Cases by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE)at Johns Hopkins University (JHU)


Ein Schub braucht immer eine Richtung

Die aktuelle Corona-Pandemie und die damit verbundenen Ausgangsbeschränkungen machen das mobile Endgerät zum besten Freund des Home-Workers. Aber wird COVID-19 langfristig zum Beschleuniger der Digitalisierung? Ja, sagt unser Autor Wolfgang Höhl, aber wir entscheiden in welche Richtung es dabei geht. Er ist Universitätsdozent für 3D-Computergrafik und xR-Technologien an der TU München.

Diese interaktive Grafik kennen Sie alle wahrscheinlich sehr gut. Es ist eine Echtzeitvisualisierung zur weltweiten Ausbreitung des Coronavirus der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Diese interaktive Karte entstand mit ArcGIS Online. Als Architekt und Planer kennen Sie ähnliche GIS-Software, mit der auch andere raumbezogene Daten gesammelt, geordnet und visualisiert werden können. Diese Grafik verarbeitet Daten und visualisiert Prozesse für den Endnutzer. Diese weltweit geteilte Information hilft auch uns allen, Leben zu retten.

Die aktuelle Pandemie beschleunigt die Digitalisierung. Diese Meinung vertritt nicht nur Bundesminister Andreas Scheuer (1). Auch die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Dr. Stefanie Hubig erwartet einen Schub für die Digitalisierung an den Schulen (2). Aber es gibt auch kritische Stimmen. In einer Petition an die deutschen Kultusminister fordert die Münchner Lehrerin Tina Uthoff „Schluss mit der Fernbeschulung“ (3). Nicht alle Familien können die Betreuung gleichförmig gewährleisten und stehen stark unter Druck. Viel stärker berührt hat mich die Nachricht, dass ein Münchner Großmarkt für Gastronomie und Handel nun mit Hilfe von Taxifahrern Senioren und Tafeln mit Lebensmitteln beliefert. Eine Logistiksoftware liefert die optimierten Fahrtrouten der Taxler. Entscheidend sind dabei die zündende Idee, ein Leitbild und eine Richtung. Ein Schub braucht immer eine Richtung.

Manche Leitbilder für die Digitale Transformation stammen aus den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mit „Ubiquitous Computing“ beschrieb Mark Weiser (1991) eine allgegenwärtige und für jeden zugängliche mobile Nutzung raumbezogener Information, ohne sichtbare Schnittstellen und Endgeräte (4). Neil Gross (1999) erwartete, „dass in Zukunft spontane Computernetzwerke entstehen und eine „riesige digitale Kreatur“ bilden werden.“ (5) Er beschreibt damit das heutige Internet of Things (IoT).

Ein Telefon in einem liegenden Baumstamm, irgendwo draußen in der Natur

Auch „Pervasive Computing“ und „Ambient Intelligence“ beschreiben heute verwandte Themenfelder, allerdings mit unterschiedlichen Ausrichtungen. (6) Ambient Intelligence behandelt intelligente, in die Umgebung eingebettete Systeme, die den Nutzer in seinen Tätigkeiten unterstützen. Gegenüber rein kommerziellen Überlegungen stehen hier aber oft soziale und prozessuale Fragen im Mittelpunkt. Zu diesen Themenfeldern gehören auch „Smart Cities“ und „Smart Homes“.

Die wichtigsten Merkmale des Ubiquitous Computing sind das Verschwinden von Hardware und User-Interfaces, die Adaptivität und Selbstorganisation des digitalen Systems, die automatische Kontextwahrnehmung, die ubiquitäre Verfügbarkeit von Information und die globale und lokale Verknüpfung. Sehr gern erinnere ich mich an ein Foto von Archigram aus den sechziger Jahren. Es zeigt ein Telefon in einem liegenden Baumstamm, irgendwo draußen in der Natur.

Kommerzielle Interessen oder nachhaltiger Nutzen?

„Die Digitale Transformation durchdringt alle Lebensweisen, individuelle und kollektive Entscheidungssituationen und nimmt Einfluss darauf, wie sich urbane Räume in Europa nachhaltig verändern.” (7)

Alain Thierstein, Professor der Raumökonomie an der TU München, nennt auch die Bedeutung der Struktur von kreativen und produktiven Prozessen. Er betont die notwendige technologische Kompetenz des Einzelnen (Digital Literacy (8)), um Verantwortung zu übernehmen, Situationen zu bewerten und sich die neue Umwelt anzueignen. Ihn beschäftigt auch die Frage nach der Art und Herkunft der Daten, die datenanalytischen und bildgebenden Verfahren. Und er sieht unterschiedliche Ebenen der digitalen Transformation nach Struktur und Größe der beteiligten Akteure.

Wird Covid-19 die Digitalisierung beschleunigen? Zum gewissen Teil ja. Die Investitionen werden zeigen, welche Richtung wir dabei einschlagen wollen. Ob wir weiterhin vorwiegend kommerzielle Interessen verfolgen wollen, oder eher den nachhaltigen Nutzen einer solidarischen Gemeinschaft in einer gesunden und funktionierenden Umwelt sehen.

In welcher Welt wollen wir leben?

Die technologische Entwicklung erfüllt heute schon viele Zukunftsszenarien. Wenn wir auch von der Adaptivität und Selbstorganisation digitaler Systeme nicht mehr weit entfernt sind, ist es zur automatischen Kontextwahrnehmung und flächendeckenden Standards noch ein weiter Weg. Wünschenswert wäre auch eine solide, weltweite non-profit Organisation, um qualitativ hochwertige Daten offen zur Verfügung zu stellen. Für Wetterdaten gibt es seit 70 Jahren die World Meteorological Organization der UN.

Die aktuelle Krise ist eine Chance für neue Ideen, für die sinnvolle Restrukturierung kreativer und produktiver Prozesse. Dazu gehört aber nicht nur die Investition in Infrastruktur und Digital Literacy. Dazu gehört zu aller erst die gelungene zwischenmenschliche Kooperation, die präzise Koordination, und die schnelle Kommunikation. Wie wir es damit halten, das bleibt unserer Entscheidung überlassen. Es bleibt die Frage – in welcher Welt wollen wir leben?

Autor und Quellen

Wolfgang Höhl ist Universitätsdozent für 3D-Computergrafik und xR-Technologien an der Technischen Universität München. Er ist registrierter Experte für die Europäische Kommission, hat an nationalen Förderprogrammen erfolgreich teilgenommen und ist als Gutachter tätig. Als Architekt verfügt er über einen langjährigen professionellen Hintergrund im Bereich nachhaltiger Energiekonzepte, Computer Aided Architectural Design, 3D-Visualisierung und Solar Simulation.

(1) Scheuer: Digitalisierung bekommt Schub, wie er vor wenigen Wochen noch undenkbar war, in: Deutschlandfunk vom 2020-03-24.

(2)  KMK-Präsidentin erwartet Schub für Digitalisierung an Schulen, in: Deutschlandfunk vom 2020-03-23.

(3)  Schmidt, P.; Ebner, S. (2020): Petition gegen den Fernunterricht, in: Münchner Merkur Nr. 71 vom 2020-03-25, S. 16

(4) Weiser, Mark (1991): The Computer of the 21st Century, in: Scientific American 265 (3)

(5) Gross, Neil (1999): The Earth Will Don An Electronic Skin, in: Bloomberg Business vom 30. August 1999. (last accessed on 2020-03-24)

(6)  Wiegerling, Klaus (2008): Ubiquitous Computing als konkrete Utopie, in: Grimm, Petra; Capurro, Rafael (Hg.): Informations- und Kommunikationsutopien, Franz Steiner Verlag, Stuttgart. S. 15-35

(7)  Thierstein, A. (2018): Digitale Transformation im urbanen Raum, in: Stadt Bauwelt Nr. 219 / 19.2018 – Digitale Stadt, S. 32-35

(8)   Schüller, K.; Förster, A. (2017): Digital Literacy für die Stadt, in: Informationen zur Raumentwicklung 1 (2017), S. 108-121

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