05.06.2019

Wohnen

Chinesische Neustädte IV – Anting New Town

Fußballweltmeister Deutschland auf einer Wiese am Schimmel Music Cloister

Im vierten Beitrag unserer fünfteiligen Serie zu Planstädten in China wendet sich Dieter Hassenpflug unter dem Motto “Anting Reloaded” der von AS+P entworfenen Neustadt in Shanghai zu. Um Anting, vor geraumer Zeit noch ein viel beachtetes Sujet des nach China blickenden Feuilletons, ist es in den letzten Jahren still geworden. Zeit für eine Wiedervorlage, für einen erneuten Blick auf die inzwischen fertig gebaute Stadt.

 

Seit einigen Jahren schon scheint der Hype um die deutsche Stadt Anting in den deutschen Medien weitgehend abgeklungen. Es sieht so aus, als sei alles Wesentliche zu diesem spektakulären städtebaulichen Projekt gesagt worden. Die Gründe für die fortdauernden Leerstände, für die überall sichtbaren Qualitätsmängel wurden ebenso erörtert, wie die Zukunftsfähigkeit der Siedlung. Von spärlichen Ausnahmen abgesehen, in denen von Inkompetenz und Korruption seitens der chinesischen Projektentwickler oder von kulturbedingten Eigenarten potenzieller chinesischer Bewohner (“Aberglaube”) die Rede war, schien man sich im Feuilleton weitgehend auf die folgenden Ursachen für die dramatischen Leerstände zu verständigen: Effektive Anbindungen an das öffentliche Verkehrsnetz würden fehlen, beim Bau von Kindergärten und Schulen sei es zu erheblichen Verzögerungen gekommen, teilweise schlechte Bauausführung (Fenster, die beim Aufmachen herausfallen, rostende Treppengeländer usw.) hätten Imageschäden verursacht und schließlich seien auch die Wohnungspreise ‘nicht von schlechten Eltern’. Dies alles habe die zügige Besiedlung der ja eigentlich attraktiven neuen Stadt behindert. Da die genannten Missstände jedoch zu beheben seien und die regulatorische Kraft des Wohnungsmarktes ein Übriges zur Aktivierung des Zuzugs beitragen werde, sei es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Menschen von den Vorzügen der deutschen Stadt mit ihren bunten Häusern, den grünen Alleen, dem großzügigen Zentrum und vor allem von den Annehmlichkeiten der implementierten Klima- und Wärmetechnik (Blockheizkraftwerk, Mehrfachverglasung, Gebäudedämmung, Zentralheizung, Sonnenkollektoren, Solarpanels etc.) überzeugen lassen.

 

Und wo, was nicht gerade häufig geschah, auf spezielle Wünsche und Vorstellungen chinesischer Kunden eingegangen wurde, ermutigte man sich auch schon mal mit der Hoffnung, dass die Chinesen sich an die räumlichen und ästhetischen Eigentümlichkeiten der deutschen Stadt noch ‘gewöhnen’ würden. Hinzu käme, dass Anting etwas Besonderes sei, eine Planstadt, die für selbstbewusste Bürger ein beachtliches Potential an Distinktionsmöglichkeiten biete. Dennoch klingt es wie Pfeifen im Walde, wenn erst in jüngster Zeit, im April 2018, einer der an leitender Stelle verantwortlichen Architekten aus dem Hause AS+P vermeldet, Anting könne sich zu einem “Juwel” vor den Toren Shanghais entwickeln, nachdem nunmehr Verkehrserschließung und öffentliche Infrastruktur vorhanden seien.¹ Es fragt sich allerdings, ob dieser Optimismus berechtigt ist, ob er sich durch Fakten unterlegen lässt. Tatsache ist, dass im Frühjahr 2016 erst 20% der Wohnungen des ersten Bauabschnitts verkauft waren, ein für chinesische Verhältnisse ungewöhnlich schlechter Wert. Auch ist Anting Neustadt, wie noch ausführlich beschrieben wird, noch weit von einer funktionierenden Stadt entfernt. Davon zeugen schon bei flüchtiger Betrachtung die ‘blinden’, leeren und verstaubten Fenster zahlreicher leerstehender Einzelhandelsflächen und Wohnungen im ersten Bauabschnitt, die drückende Abwesenheit von Menschen auf Straßen und Plätzen des ansonsten so dicht besiedelten, wuseligen chinesischen Stadtraums. Dabei sind die Anbindungen an das öffentliche Nahverkehrssystem, einschließlich Metro (seit 2014), mittlerweile sehr gut, Schulen und Kindergärten sind im Umfeld verfügbar, Einkaufsmöglichkeiten sind in Reichweite und sogar die Wohnungspreise sind für Shanghaier Verhältnisse moderat.

Warum aber “funktioniert” Anting trotz der inzwischen vorhandenen leistungsfähigen Infrastruktur immer noch nicht wie ein normales chinesisches Stadtquartier? Und weshalb mag sich immer noch keine Hoffnung auf nachhaltige Besserung einstellen? Der wichtigste Grund ist, so meine Hypothese, jener eklatante Mangel an interkultureller Kompetenz, der sich in dem Masterplan von Anting Neustadt manifestiert. So wurden durch diesen deutsche Lebens- gewohnheiten, Raumansprüche, Sichtweisen und Bewertungsmaßstäbe in ein Land projiziert, das in seinen Städten völlig andere Lebensgewohnheiten, Raumansprüche, Sichtweisen und Bewertungsmaßstäbe materialisiert. Projektives Sehen vermag jedoch nur zu erkennen, was ihm bereits bekannt und vertraut ist. Nicht zufällig liest man in westlichen Berichten von einer “Perle”, einer “schönen” oder auch “attraktiven” Stadt, deren Charme man sich nur schwer entziehen könne. Umso rätselhafter allerdings erscheint vor diesem Hintergrund, dass kaum Menschen in die Stadt ziehen und diese allmählich zu verwahrlosen droht. Aber so ist es mit der Projektion: sie kann ihren Gegenstand nicht er- bzw. begreifen. Sie ersetzt ihn durch Wunschwirklichkeiten. Der erwähnte Optimismus hinsichtlich der Zukunft von Anting erscheint demnach ebenso verständlich wie haltlos.

Kopie des Weimarer Goethe-Schiller-Denkmals (2007)

 

Inzwischen klammern sich die Hoffnungen auch an die seit 2014 freigegebenen Bauabschnitte im östlichen Teil des Plangebiets. Ein 2007 im Verkaufspavillon von Anting ausgestelltes Stadtmodell zeigt, dass der zweite Teil der Neustadt den städtebaulichen Vorgaben des ersten Bauabschnitts weitgehend folgt, Anting mithin als “deutsche Stadt” komplettiert werden soll. Man erkennt zahlreiche Blockrandstrukturen, eine Fortsetzung geschwungener Straßenverläufe, eine weitgehend übereinstimmende Baudichte und Bauhöhe. Farblich und baulich abgesetzte Erdgeschossbereiche weisen darauf hin, dass auch hier das europäische Konzept der offenen, mischgenutzten Bebauung in zentralen Bereichen umgesetzt werden soll.

Dass zu jener Zeit noch an eine baustrukturelle Einheit gedacht wurde, erhellt auch dadurch, dass der zweite Teil der Neustadt kein eigenes Zentrum vorsieht. Dieser Teil orientiert sich vielmehr auf die im ersten Bauabschnitt vorgesehene Fiktion des europäischen Marktplatzes. Hinzu kommt, dass zum Zeitpunkt der Realisierung des ersten Bauabschnitts große Teile der erdgebundenen Infrastruktur (Wasserversorgung, Abwasser, Elektrizität, Energie, Kabel etc.) bereits eingebracht wurden. Es versteht sich von selbst, dass zwischen der europäischen bzw. deutschen Grundstruktur des zweiten Bauabschnitts und dem Verlauf von Rohren und Kabeln eine räumliche Beziehung besteht. Dieser Verlauf ist jedoch für eine chinesische Stadt eher ungeeignet und erfordert daher bei Umstellung auf eine chinesische Grundstruktur aufwändige Anpassungsmaßnahmen. Und diese Umstellung wurde dann ja auch tatsächlich vollzogen. Sie wurde vollzogen, als klar wurde, dass Anting Neustadt eine ‘Geisterstadt’ zu werden drohte.

Gewerbeflächen im Parterre von Wohngebäuden
Blick vom Zentrum auf den 2. Bauabschnitt

1 Vgl. den Artikel in der Thüringer Landeszeitung (TLZ) vom 14.04.2018: “German Town: Von der Geisterstadt zum Juwel vor Shanghais Toren”

Im kommenden und zugleich letzten Beitrag der Serie zu Planstädten in China im Baumeister Blog befasst sich Dieter Hassenpflug unter den Titel “Idealstadt Lingang” kritisch mit der von GMP entworfenen und noch im Bau befindlichen Retortenstadt Lingang in Shanghai-Pudong.

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