08.06.2016

Öffentlich

Bürger beteiligen

Der Raum ist überfüllt, das Licht grell, die Luft stickig. Durch den geöffneten Fensterspalt zieht eiskalte Winterluft herein. Im Stadtplanungsausschuss des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg drückt die Anspannung Beulen in die 70er Jahre Decke. Ein Projekt nach dem anderen wird zur Vorstellung gebracht. Und zur Wiedervorlage bestimmt. Die Wortführer der diversen Fraktionen finden immer noch hämischere Empfehlungen für die Vortragenden, die wie Bittsteller ihre zerrupften Projekte wieder einpacken dürfen. Fachleute können sich mit Belegen ihrer Kompetenz kaum Gehör verschaffen. Warum anstrengend entscheiden, wenn man so schön polemisieren kann?

Wer hat es nicht schon erlebt, wenn der Wille zum Verstehen abhanden kommt und Opportunismus das Maß für politisches Handeln wird?! Divergierende Interessen prallen mit Wucht aufeinander und müssen in langwierigen Verfahren immer und immer wieder verhandelt werden. Wie sich unsere Städte weiterentwickeln, welcher Wille sich in baulicher Substanz manifestiert, geht viele an. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Werner Grundstücksbesitzer und Rainer Bürgermeister nahezu allein entscheiden konnten. Denn die Stadt gehört auch Selim aus dem SO 36. Deshalb ist es für den langfristigen Erfolg entscheidend, dass sich unterschiedliche Gruppen engagieren und ausreichend Gelegenheit haben sich einzubringen.

Darum muss Neues immer wieder neu verhandelt werden. Offene, inklusive Gesellschaften gehen diesen Prozess aktiv an.

Waren die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik geprägt von wenigen und zumeist in den politischen Parteien organisierten Interessengruppen, sind die Verhältnisse heute deutlich unübersichtlicher. Die Linien verlaufen fließend. Tausende von Lobbyisten, Vereinigungen und Bürgerinitiativen ringen um ihre Interessen und versuchen auf allen politischen Ebenen Einfluss zu gewinnen. Höhere Ansprüche und deutlich divergierende Bedürfnisse führen zu immer langwierigeren Entscheidungsprozessen. Doch wie die Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Daron Acemoğlu und James A. Robinson in ihrem Buch ‘Warum Nationen scheitern’ an vielen Beispielen durch die Zivilisationsgeschichte hinweg aufzeigen, ist gerade der Grad der Einbeziehung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in wirtschaftliche und politische Entscheidungen der Innovationsmotor, der eine Spirale zum Guten, Besseren und noch Besseren in Gang setzt. Das sorgt dafür, dass Vorhandenes immer wieder in Frage gestellt wird und Innovationen umgesetzt werden.

Deshalb führt der Wettbewerb unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen zu genau der Dynamik, die nach immer wieder besseren und ausgewogeneren Lösungen strebt.

Die Erhöhung der Lebensqualität in vielen Städten in den letzten 25 Jahren ist auch darauf zurückzuführen, dass sich immer mehr Personen in den Prozess der Stadtplanung einbringen. Seit Mitte der 90er Jahre hat sich beispielsweise die Zahl der kommunalen Plebiszite verdreifacht. Bürgerbeteiligungen sind zu einer kraftvollen Bewegung geworden, die kaum ein politischer Mandatsträger ignorieren kann.

Irgendwann sicher auch im Stadtplanungsausschuss von Friedrichshain-Kreuzberg.

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