04.04.2017

Portrait

Bauen ohne Müll – geht das?

Energie sparen, das große Thema in Deutschland. Die Politik meint: Gerade die Energieeinsparverordnung EnEV stellt einen entscheidenden Schritt nach vorn da. So ganz überzeugt ist die Architektenschaft nicht. Das „Baumeister Research Panel“ zeigt, dass rund die Hälfte aller befragten Architekten durchaus EnEV-skeptisch sind. In der Umfrage stimmen 18 Prozent der Aussage gar nicht zu, die EnEV leiste „einen wertvollen Beitrag zu energieeffizientem Bauen“. Weitere 33 Prozent meinen „eher nicht“. Absolute Zustimmung gibt es nur von sieben Prozent – immerhin eine tendenzielle Zustimmung von 42 Prozent.

Der Architekt Jörg Finkbeiner meint dazu: „Die Energieeinsparverordnung beschäftigt sich überwiegend mit dem Reduzieren des Energieverbrauchs. Da stoßen wir bei der Frage nach umfassender Nachhaltigkeit an Grenzen.“ Denn die EnEV sei längst nicht ausreichend, um auf komplexe Themen wie Umweltschutz Antworten zu finden. Finkbeiner ist Gründungspartner des Büros „Partner und Partner“, Berlin/Baiersbronn, spezialisiert auf zukunftsfähiges, nachhaltiges Bauen. Er ist überzeugt: „Wir brauchen ein neues Denkmodell.“

Auf der Suche nach einem neuen Denkmodell ist Finkbeiner fündig geworden. Seit 2013 ist er als „Cradle-to-Cradle“-Consultant tätig. Die Philosophie hat sich zum Ziel gesetzt, keinen Abfall mehr zu produzieren – sondern ausschließlich Rohstoffe. Sie folgt drei Prinzipien: der Verwertung von Abfall als Rohstoff für Neues, der Nutzung erneuerbarer Energien und der Förderung von Diversität.

Es geht also um mehr als nur Energie einzusparen. „Die Debatte um Energie wird von einer Debatte um Ressourcen abgelöst werden“, ist Finkbeiner überzeugt. Für ihn besteht echter Umweltschutz aus zusätzlichen Aspekten wie den Werterhalt von Ressourcen und die Gesundheitsförderung für Menschen.

Bei Cradle-to-Cradle wird zwischen einem biologischen und einem technischen Kreislauf unterschieden, wobei diese nicht vermischt werden sollten. Ähnlich der sogenannten Circular Economy, deren Vertreter ebenfalls eine Art Kreislaufwirtschaft anstreben. „Auf die Architektur übertragen bedeutet dies beispielsweise, dass Gebäude zu Rohstofflagern werden könnten.“

Das heißt, keine Baustoffe einzusetzen, die nach Ablauf der Nutzungsdauer weggeworfen werden, sondern sie weiterzuverwenden, ohne dass sich ihr Wert oder ihre Güte vermindert. Das Ziel: ein endloser Materialkreislauf. Oder wie Michael Braungart, einer der Erfinder des patentgeschützten Cradle-to-Cradle-Prinzips, oft zitiert wird: „Gebäude wie Bäume und Städte wie Wälder“.

Beim Rückbau soll also kein Abfall entstehen, sondern Ressourcen für neue Projekte. Was aber geht den Architekten der Rückbau an? „Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Gebäude sollten deshalb ganzheitlich betrachtet werden“, sagt Finkbeiner. Der formal künstlerische Anspruch sei nur ein Teil von vielen. Was ihn an Cradle-to-Cradle überzeugt, ist die Grundhaltung, nicht nur weniger Schlechtes zu bringen, sondern tatsächlich Nutzvolles. „Das Minimieren des ökologischen Fußabdrucks sollte abgelöst werden vom Optimieren eines positiven ,Impact’“, erklärt Finkbeiner. „Gebäude sollten umweltfördernd und gesellschaftsfreundlich sein.“

Peter Mösle, Partner für Nachhaltigkeit und Energie bei Drees & Sommer und seit 2014 ebenfalls Cradle-to-Cradle-Berater, würde dieser Aussage zustimmen: „Vor allem bei den Ressourcen hat die Immobilienwirtschaft eine enorme Verantwortung. Immerhin verbraucht dieser Industriesektor etwa 50 Prozent der globalen Rohstoffe und sorgt für 60 Prozent des gesamten Abfalls.“

Zudem belasten die steigenden Rohstoffpreise die Bauwirtschaft noch ungleich schwerer. Hinzu kommen Kosten für Rückbau und neue Materialien für das nächste Bauprojekt. Gemäß Cradle-to-Cradle sollten Bauunternehmer stattdessen zu Beginn überlegen, welche Materialien verwendet werden und wie lange sie haltbar sind. Ein EU-gefördertes Projekt, BAMB, was „Building As Material Banks“ bedeutet, widmet sich diesem Thema und plant eine Materialdatenbank im Sinne der Circular Economy.

„Ein Gebäude könnte so zu einer temporären Lagerstätte wertvoller Materialien werden“, führt Mösle die Idee weiter aus. Denn Cradle-to-Cradle folgt keinem Lebenszyklus, mit Anfang und Ende – was unweigerlich zu Abfall führt –, sondern zielt auf komplette Demontage und Wiederverwertbarkeit. „Dieser Gedanke lässt sich auch auf ganze Quartiere übertragen.“

Weg also vom Mantra des effizienteren, sparsameren, besseren Verhalten und hin zur Kreativität, zum Überfluss, zur Diversität. Wie also würde ein Cradle-to-Cradle-Gebäude aussehen? „Das Zertifikat bezieht sich ausschließlich auf Produkte. Es kann also kein Haus geben, dem dieses Zertifikat verliehen wird“, sagt Mösle. Dafür gibt es erste Hersteller von Fenster, Türen und Wandkonstruktionen, produziert nach diesem patentgeschützten Prinzip. Jedoch: „Die Summe aus guten Einzelprodukten macht noch lange kein gutes Haus“, meint Mösle. „Denn ein Gebäude lebt von der Zufriedenheit seiner Nutzer in all seiner Gesamtheit.“

Eine Zertifizierung schließt auch immer andere Ideen aus. Davon würde sich Finkbeiner eingeschränkt fühlen: „Das widerspräche jeder architektonischen Freiheit. Die Flexibilität, die Cradle-to-Cradle ermöglicht, bedeutet ja in der Praxis, bei jedem neuen Projekt diese Potenziale zu erkennen und individuell zu entwickeln.“ Ist es so anstrengend, wie es klingt? „Die Schwierigkeit besteht tatsächlich darin, diese Ideen und Theorien allen Beteiligten eines Bauprojekts nahezubringen.“ Und das geht weit über die reine Architektur hinaus.

Zum Beispiel beim Thema Kosten: Hier ließe sich einiges einsparen, sind die Anhänger überzeugt. Etwa, wenn die Rohstoffe im Gebäude lediglich für die Nutzungsdauer vermietet und im Anschluss neu genutzt würden. Oder, wenn man präventive Maßnahmen einsetzen würde, etwa ein gesundes Raumklima. Dadurch könnte sich der Krankenstand von Mitarbeitern minimieren.

Aus ähnlichen Motiven baute die Stadt Venlo ihr neues Rathaus. Kraaijvanger Architects legten Wert auf vier Kernaspekte: Sie achteten auf eine gesunde Luft- und Wasserqualität, nutzten erneuerbare Energie und achteten auf eine Nicht-Vermischung der biologischen und technischen Kreisläufe. Ein weiteres Beispiel ist der neue Sitz der RAG-Stiftung von Kadawittfeldarchitektur, die auf das Gelände der Zeche Zollverein in Essen ziehen soll. Geplant wird hier mit Baustoffen, die nach Cradle-to-Cradle-Manier wiederverwertbar sind.

Nun ist es kein Einfaches, Auftraggeber, Projektentwickler, Ingenieure, Planer, Investoren und nicht zuletzt die Gewerke von einem ganz neuen Denkmodell zu überzeugen. „Man sollte nicht den Anspruch haben, immer alles zu einhundert Prozent umzusetzen“, relativiert Finkbeiner. Und nimmt den Druck des perfekten, nachhaltigen Gebäudes: „Hilfreich ist es, sich Schwerpunkte zu setzen und diese zu entwickeln.“

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