19.02.2019

Portrait

Polarisierende Persönlichkeiten


Denk- und Arbeitsraum in Berlin

Aus der Spannung zwischen zwei Polen entstehen bei Barkow Leibinger ästhetisch und funktional außergewöhnliche Architekturen. Ihre Entwürfe erinnern an die klassische Moderne und weisen gleichzeitig in die Zukunft. 

Dieses Porträt ist Teil der Interview- Serie “Architect Dialogues”, produziert von Freunde von Freunden und Siemens Home Appliances.

Zwischen den Hipsterbikes steht ein Koloss aus Eisen. Zentnerschwer. Denkmalgeschützt. Und mit übergroßen Zahnrädern bestückt. Eine historische Blechbiegemaschine. Ein paar Stufen hoch, in der Modellbauwerkstatt im Hochparterre, fliegen zwar noch immer die Spähne, es wird gebündelt, gefältet und geformt – das aber neben einer digitalen Fräse, Laser-Cuttern und anderen geheimnisvollen Hightech-Werkzeugen. Noch weiter oben, in drei luftig-hellen Fabriketagen, sitzen junge Menschen an leistungsstarken Rechnern. Es wird gedacht, entworfen, skizziert, skaliert. Konzentrierte Stille unter klassischen Designerleuchten. Das Neben-, Über- und Miteinander dieser drei Ebenen zeigt auf einen Blick, wie in diesem Charlottenburger Hinterhof international gefeierte Architektur entsteht. Barkow Leibinger haben hier ihren Denk- und Arbeitsraum aufgeschlagen.

Barkow Leibingers Büro liegt in einer Blechbiegemaschine aus dem 19. Jahrhundert.
Auf drei Ebenen arbeiten junge Menschen an leistungsstarken Rechnern.
Design-Objekte – in Miniatur- und Originalgröße – schmücken das Büro.

Zwei polarisierende Persönlichkeiten

„Unsere Arbeitsweise ist eine Dialektik aus Machen und Denken. Ein ständiges Hin und Her“, erklärt Frank Barkow. „Man kann das Machen intellektualisieren, das Konzept ist wichtig. Aber im Grunde entsteht alles aus dem Material heraus. Aus dem Experimentieren mit alten und neuen Werkzeugen. Mit jeder konkreten Bauaufgabe kommen Raumprogramm und Form hinzu, auch der Kontext wirkt auf den Entwurf zurück.“ Eine Dialektik, die sich allein schon aus den polarisierenden Persönlichkeiten der beiden Bürogründer entwickelt: Frank Barkow aus dem tiefsten Montana, „bricoleur“ und Tüftler mit tausend Ideen, dessen Finger im Gespräch über die Tischplatte fliegen, die Klaviertasten suchend, den Zeichenstift oder den Hammer. Und Regine Leibinger, die quirlige Unternehmertochter und Enkelin eines Kunsthändlers, der Stilempfinden, klassische Bildung und schwäbische Geschäftstüchtigkeit quasi in die Wiege gelegt waren.

Liebe auf den ersten Blick

Eine unwahrscheinliche Kombination. Und doch war es Liebe auf den ersten Blick, als die beiden sich Anfang der Neunziger in Harvard trafen. „Das war sehr lustig“, erzählt Barkow. „Regine war sehr rational, sehr europäisch-sophisticated. Ich war eher expressionistisch und experimentell. Die Sensibilität für den Raum und für das Material war ähnlich.“ „Stimmt“, fällt Leibinger ein, „Wir haben beide immer viel in Schnitten gedacht. Und über Fassaden, über Decken und Dächer, die fünfte Fassade. Dann dieses wahnsinnige Interesse für das Material. Meins war immer der Beton und bei Frank alles Mögliche. Später kam dann Metall dazu.“ „Ja, aber unsere Haltung war damals völlig verschieden.“

„Ich kam Wort wörtlich aus ‚the middle of nowhere‘.”

Kein Wunder. Schließlich kam Leibinger gerade aus Berlin, wo die Studenten Wohnungsbau direkt an Beispielen von Mies van der Rohe und Bruno Taut lernten, wo in den Achtzigern die Internationale Bauausstellung und die Postmoderne in vollem Gange waren. Die IBA setzte sich mit der „kritischen Rekonstruktion“ auseinander, und Josef Paul Kleihues öffnete Leibinger die Augen für amerikanische Architekten wie Peter Eisenman und Louis Kahn.

Namen, die Frank Barkow erst einmal nicht viel sagten. „Ich kam Wort wörtlich aus ‚the middle of nowhere‘. Montana war so weit weg vom Architektur-Diskurs, dass die ersten Architekten, deren Namen ich kannte, Buckminster Fuller und AntFarm waren. Oder Bruce Goff und dessen Vorbild Frank Llyod Wright. Ich kannte vor allem solche Leute.“ In der enormen Weite Montanas wuchs Barkow mit Architekturen auf, die von Landwirtschaft und Schwerindustrie geprägt waren. Eisenbahn, Dammbau, Minen, Holzwirtschaft. Alltagsarchitektur ohne Architekten. Eher Infrastruktur als Architektur. „Diese Verbindung zwischen Landschaft und Bauen ist bis heute ganz wichtig für mich“, sagt Barkow. „Gleichzeitig gibt es in diesen kleinen Bergstädten in Montana wunderschöne Beispiele einer Architektur, die während des Goldrauschs im 19. Jahrhundert entstanden ist. Daher habe ich mich später für den Künstler Donald Judd begeistert, der sagte, die schönsten Dinge in den USA seien von der Industrie geprägt.“

Als der Siebzehnjährige nach dem Highschool-Abschluss mit eigenen Händen und einfachen Werkzeugen Einfamilienhäuser aus Holz zimmert, entwickelt er ein intuitives Verständnis von Architektur. Und letztlich war es diese sehr amerikanische „Self-Determination“, das Selbermachen, Selberdenken, das den Ausschlag gab, Architektur zu studieren. „Ich hatte schon früh die handwerklichen Fertigkeiten selbst Häuser zu bauen. Aber das Wissen, all die Referenzen, mit denen Regine spielend umging, musste ich mir erst nach und nach erarbeiten.“

Das Büro ist wie ein Archiv, in dem ausgezeichnete Bauten als Modelle gelagert sind.
Aber auch experimentelle Arbeiten von Studenten sind dort zu finden.

Das erste Büro in Berlin

Extreme Gegensätze. Und doch Grundvoraussetzung für den besonderen Weg, den Barkow Leibinger im Verlauf ihrer Karriere gehen würden. Nach ersten Erfolgen bei Wettbewerben und der Entscheidung der Rezession in den USA und der Enge Stuttgarts den Rücken zu kehren, eröffneten die beiden im von Kunst, Musik, Fotografie und gesellschaftlichem Aufbruch durchpulsten Post-Wende Berlin ein gemeinsames Büro. In Regines alter Einzimmerwohnung in Schöneberg. Der Durchbruch kam 1998 mit der Laserfabrik für den Maschinenbauer Trumpf in Ditzingen bei Stuttgart, jenes Familienunternehmen, in dessen Führung Regine Leibinger der „Droge Architektur“ wegen nicht eingetreten war. Ihr Beitrag ist das Bauen.

Wenn auch durch familiäre Bande gestärkt, so entstand hier doch eine Zusammenarbeit zwischen Industrie und Architektur, die für beiden Seiten ein wahrer Glücksfall ist. Wenn Frank Barkow und Regines Vater Berthold – Kunstliebhaber und selbst Inbegriff des schwäbischen Tüftlers und Bastlers – an einem Tisch saßen, sprühten nur so die Funken. „Berthold ist ein deutsches Genie“, schwärmt Barkow. „Er denkt wie ein Ingenieur und Dichter zugleich. Er hat uns einerseits Freiheit gegeben, aber auch Widerstand. Und über Trumpf haben wir überhaupt erst zum Metall gefunden.“

Trumpf in Stuttgart

Fast fühlt man sich an Walter Gropius erinnert, der für Carl Benscheid das heute berühmte Fagus-Werk in Alfeld baute. Erst der so genannte „Fagus-Knoten“ ermöglichte es Gropius, die Stahlkonstruktion durch zwei überkreuzte Träger zur Ecke auskragen zu lassen. Barkow Leibinger haben es in Zusammenarbeit mit dem renommierten Ingenieur Werner Sobek geschafft, dass das Dach der Hauptpforte fast 20 Meter frei über der Straße schwebt und die mächtige Dachkonstruktion der Trumpf-Kantine tatsächlich auf wenigen, filigran wirkenden Stahlstützen stehen kann Die polygonalen, teils verglasten Holzwaben im Dach wirken nicht nur heimelig, sie saugen auch die sonst so störenden Kantinengeräusche auf. Der Raum darunter kann sich in eine Galerie, ein Auditorium oder den Ort für die Weihnachtsfeier verwandeln. „Aber die Hauptsache ist, dass man dort Maultauschen essen kann, das ist ganz wichtig“, ergänzt Barkow.

Neue Technologien, Materialien und Fertigungsmethoden befruchten also die künstlerische Kreativität der Entwürfe von Barkow Leibinger. Aber es geht auch umgekehrt: Albert Kahns Ford-Werke in Detroit mit dem ersten Fließband der Welt läuteten den „Fordismus“ ein, der bekanntlich nicht nur die industrielle Fertigung, sondern die ganze Gesellschaft umkrempelte. Vielleicht wird man rückblickend auch Barkow Leibingers Smart Factory für Trumpf in Chicago als ein solch bahnbrechendes Industriegebäude ansehen. „Es ist das erste Gebäude, das nach den Prinzipen von Industrie 4.0, der digitalisierten, weltweit vernetzten Fertigung mit künstlicher Intelligenz, gebaut ist“, erklärt Regine Leibinger. Tatsächlich erinnern die riesigen Displays im Kontrollraum mit Blick über den Maschinenraum mit seinen Metallbiegemaschinen und Laserschneideanlagen an die Science-Fiction-Visionen aus Tom Cruises «Minority Report».

Als Gegenakzent zu so viel brillant-kühler Hightech ist die luftige Eingangshalle mit warmem Kiefernholz verkleidet, die Fassade dezent angerostet. Schließlich liegt Chicago am Rande des amerikanischen „rust belt“, dem heute brachliegenden Herzen der alten, amerikanischen Autoindustrie. „Die Architektur ist in gewisser Weise archaisch und fortschrittlich zugleich“, erklärt Barkow. „Wir knüpfen an die Materialien und die Ästhetik der amerikanischen Industriegeschichte an: Stahl, Mies van der Rohe, die Konstruktion des amerikanischen Freeways, dessen Brücken und Schilder nach Donald Judd stilprägend für die amerikanische Kultur sind, und verbinden das mit den neuen Hightech-Prozessen in der Industrie 4.0. Das macht es für mich so interessant. Und natürlich sehr amerikanisch.“

Der gläserne Pavillon

Wie Barkow Leibinger Tradition, Handwerk, Digitalisierung und ästhetische Strenge zu einem künstlerischen Raumentwurf mit klarer Funktionalität verweben, offenbart auch ihr Pavillon für die American Academy in Berlin aus dem Jahr 2015. Der gläserne Bungalow bietet den Stipendiaten der Akademie herrlich-schlichte Arbeitsräume mit Blick auf den Großen Wannsee. Wie eine zeitgenössische Variation von Mies van der Rohes Farnsworth-Haus, allerdings mit einer komplizierten, gegeneinander versetzten Dachfigur aus Stahl. Die Idee hierzu mäanderte von einem marokkanischen Weber, der Barkow Leibinger sein jahrhundertealtes Handwerk zeigte, über Berlin, wo Mitarbeiter des Büros die Textur der Teppiche digitalisierten, skalierten und mit Hilfe von Algorithmen in eine gigantische Installation aus Baumstämmen und Baumwollfäden für die Marrakesch Biennale verwandelten. Elemente dieser hyperbolischen Struktur finden sich jetzt über den Köpfen der Fellows am Wannsee. „Dass sich Materialstudien oder Prototypen irgendwann in der gebauten Welt wiederfinden, ist unser Anliegen“, sagt Leibinger.

Vom Autodesign zum Wohnungsbau

„Wir verstehen unser Büro auch als Forschungsplattform“, sagt Frank Barkow. „Wenn wir bei  einem Thema Potenzial erkennnen, nehmen wir es mit zu unserem Studenten nach Harvard und Princeton, wo wir auf extrem hohen Niveau daran arbeiten können.“ Aus einem utopischen textilen Autodesign etwa, das Chris Bangle für BMW entworfen hatte, wurden so in einem gemeinsamen Entwurfsseminar flexible, nachhaltige Strukturen für einen erschwinglichen Wohnungsbau. Wie im eigenen Büro ist es die dynamische Spannung, die Auseinandersetzung auf Augenhöhe, das Zweifeln und das Ringen nach der besten Lösung, was Barkow an der „harten Schule“ Harvard schätzt: „Ich brauche den Widerstand.“ „Diese jungen, sehr engagierten Amerikaner fordern mich“, bestätigt Leibinger. „Sie halten mich auf dem Stand der Dinge, was neue Technologien und Materialien angeht. Aber auch durch die Art, wie sie denken, was sie wissen.“ Die besten kommen dann mit nach Berlin, wo sie von der unvergleichlichen Kreativität dieser Stadt profitieren.

Das urbane Gewerbe Berlins

Berlins Chaos, das Experimentelle, das Künstlerische. Barkow Leibinger können sich keinen inspirierenderen Ort für ihr Büro vorstellen. Hier ist der Nährboden, um inspiriert durch die Windungen eines Kohls die abstrakt-organisch Holzkonstruktion des Sommerhauses Serpentine Gallery in London zu entwickeln. Nicht natürlich ohne den Umweg über die Modellwerkstatt, wo wie in einem Bauhaus-Vorkurs dünne Holzplatten und Karton zu Schlingen und Schlaufen gebogen und gestapelt wurden.

Die Modellwerkstatt ist ein essenzieller Teil des Büros.
Fast wie einem Bauhaus-Vorkurs: In der Werkstatt werden dünne Holzplatten und Karton zu Schlingen und Schlaufen gebogen und gestapelt.

Der alte Traum: New York

Seit einiger Zeit prägen Barkow Leibinger das urbane Gewebe Berlins auch mit eigenen Bauten. Dem elegant in sich gedrehten “Tour Total” am Hauptbahnhof von 2012 und dem Estrel-Tower in Neukölln, der das höchste Hochhaus der Stadt werden soll. Mit ihrem Wohnturm aus Infraleichtbeton bewegen die Architekten sogar traditionell konservative Bauherrn wie eine Berliner Wohnungsbaugesellschaft zu innovativen Bauexperimenten. „Dieser neue Baustoff, den der Bauingenieur Mike Schlaich entwickelt hat, ist unglaublich nachhaltig und zukunftsträchtig. Er trägt, schützt vor Witterung und dämmt gleichzeitig, ist vollständig recycelbar. Wir bauen daraus erstmals ein Hochhaus“, erklärt Leibinger.

Vor ein paar Jahren verwirklichten Barkow Leibinger sich den alten Traum von einem Büro in New York. „Ich stehe der amerikanischen Architektur sehr kritisch gegenüber“, sagt Frank Barkow. Und ich glaube, ich kann mit meinem europäisierten Architekturverständnis dazu beitragen, dass sie besser wird.“ So wie Le Corbusier, Erich Mendelsohn und andere Exil-Architekten in den Zwanziger und Dreißiger Jahren die amerikanische Baukultur veränderten. Mit Frank Barkow kehrt nun ein amerikanischer Architekt aus dem tiefsten Montana in das Land seiner Großväter zurück, um von dort Bildung, Kunstsinn und Baukultur in die USA zu importieren. Auch wenn das Büro in New York bisher noch im Aufbau ist, mag Barkow dieses Narrativ schon jetzt. Es ist ein weiterer Brückenschlag zwischen dieser theoretisch so unwahrscheinlichen, praktisch sich aber wahrhaft beglückenden Kombination Barkow – und – Leibinger.

Alle Bilder von Daniel Gebhard de Koekkoek

 

 

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