08.12.2016

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Barkow Leibinger über den Mariendom

Wallfahrtskirche in Neviges von Gottfried Böhm

Mariendom,
Frank Barkow & Regine Leibinger,
1969 n. Chr.

In ihrem Buch „Reminiscence“ porträtieren Benedict Esche und Benedikt Hartl die besondere Beziehung zwischen Bauwerk und Architekt. Dort kommen wegweisende Architekten zu Wort, die über ihre architektonische Prägung und deren Einfluss auf die eigene Arbeit schreiben. Hier erkären Frank Barkow und Regine Leibinger die Bedeutung der Wallfahrtskirche in Neviges von Gottfried Böhm:

 

„Es wäre leicht vorstellbar, dass Gottfried Böhm den Pritzker-Preis 1986 allein aufgrund der Bedeutung des Mariendoms, seiner Wallfahrtskirche in der Kleinstadt Neviges, erhalten hat. Der Bau ist eine erstaunliche Leistung: die Kulmination der höchsten Ansprüche des deutschen Expressionismus, realisiert als wahre Stadtkrone – ein vollkommenes Meisterwerk. Tektonisch und materiell ein Gewaltakt des Neuen Brutalismus, steht er im Einklang mit dem berühmten Zitat von Peter und Alison Smithson: ‘Der Brutalismus versucht, der Gesellschaft der Massenproduktion zu entsprechen und den verworrenen und starken Kräften, die am Werke sind, eine raue Poesie zu entreißen.’ Die 1968 fertiggestellte Kirche bündelt auf radikale Weise die Kräfte einer extrem turbulenten Zeit, in der eine technologisch versierte Ästhetik politisch, kulturell und gesellschaftlich zugunsten einer skulpturalen, subjektiven und archaischen Ästhetik abgelehnt wurde. Einfühlsam und umsichtig hat Böhm eine Gebäudeform entwickelt, die sich, zum einem seltsam abstrakt und gleichzeitig formal den Giebelformen der umliegenden Gebäuden ähnelnd, in die Kleinstadt einfügt.

Alle Oberflächen des Gebäudes, also Innen-, Außenwände und Dach, sind aus Ortbeton. Der Grundriss ist von einer wellenförmigen Umrisslinie bestimmt, die eine Abfolge zellenförmiger Nischen ausbildet. Diese steigen in ihrer Höhe an und definieren damit ein kristallines Gebäudevolumen. Die asymmetrische, alles umfassende Gebäudehülle verstärkt diesen visuellen Eindruck. Beim Eintreten in die Kirche wird der Besucher von Dunkelheit eingehüllt, was ihn nötigt zu warten, bis sich die Augen an das wenige Tageslicht gewöhnt haben. Erst dann wird ein erhabenes Licht erkennbar, das durch die tiefen Kirchenfenster fällt und die fast mystische Dämmerung durchdringt. Vom Architekten selbst mit symbolischen Figuren wie einer Schlange, einer Rose, oder dem heiligen Geist in Form von komplexen geometrischen Mustern und Farben gestaltet, rufen die Fenster ein prächtiges, lebendiges und gesättigtes Licht hervor, das die Dunkelheit erleuchtet – ein kontemplativer, in sich gekehrter Innenraum von außergewöhnlicher Kraft. Böhm erinnert eine junge, mit digitalen Technologien hochgerüstete Generation von Architekten daran, wozu die pure Kraft architektonischer Erfindung imstande ist – nämlich strahlend authentische Architektur zu schaffen. Sowohl in Architektur als auch Skulptur bewandert, synthetisiert Böhm beide Disziplinen nahtlos. Das schöne, kleine Metallmodell der Kirche, das sich im Hof befindet, ist ein bescheidendes Denkmal für diese gigantische Leistung.“

Weitere Informationen zum Buch finden Sie hier

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