17.12.2020

Öffentlich

Aus der Echtwelt 11


„Das Ende von allem ist die Wiederkehr des Funktionalismus.“

Was wollte Anne-Julchen Bernhardt ursprünglich mit ihrer Kolumne „Aus der Echtwelt“ diskutieren? Und inwiefern beeinflusst die Covid-19-Pandemie dieses Vorhaben? Und warum sind jetzt alle Funktionalisten?

Es gab diesen Plan: in der Echtwelt nach dem Untergrund die drängenden Themen der Architektur behandeln – Schönheit, Konzept, Gebrauch, Muster, Typen, Komposition, System, Struktur, Maßstab, Kontext, Ökonomie, These und dergleichen. Aus der Realität argumentiert, gespiegelt in den Widersprüchen der Gegenwart, ein beiläufiges Manifest der zweiten Dekade der 2000er-Jahre. Aus der Echtwelt 8 kreiste um die Schönheit, kein Manifest, sondern eine erste Miniatur. Dann kam – Verzeihung, dass es auch hier wiederkommt – Corona. Zur Echtwelt 11 ist Herbst, das Heft erscheint im Winter, also ein Jahr danach, und eigentlich könnte es mal wieder was mit Architektur zu tun haben.

Was bedeuten die letzten 236 Tage (am 11. März 2020 konstatiert die WHO eine Pandemie) für die Architektur? Alle Entwürfe aller Unis scharwenzeln um das Thema herum; es geht um den Modus (online), nicht um die Auswirkungen (maximal Homeoffice). Gewiss ist, dass alles ungewiss ist. Obwohl es den fortwährenden, kurzfristigen Zeitbezug gibt: In 36 Stunden Testergebnis, zehn Tage Quarantäne, vier Wochen Regelungen, herrscht ein Zustand der Unzeitlichkeit, des Wartens auf das Ungeplante. Zum Zustand vor der Covid-19-Pandemie werden wir nie wieder zurückkehren. Also vielleicht ein Versuch zur Funktion, der berechneten Planung.

Eigentlich ist es offensichtlich, alles, was vorher schon schwächelte, ist nun dahin: das Kaufhaus, das Büro, das Parkhaus, die funktional sortierte Stadt. „The Typical Plan“, dieser großartige Text von Koolhaas – alles Geschichte. Den tiefen, infrastrukturierten, generischen Grundriss kann man nun nicht mehr aus praktischen, sondern allenfalls aus nostalgischen Gründen auf Instagram sammeln. Alles Typen, die aus ihrer Spezifik heraus optimiert sind, wunderbar reine Typen, sind jetzt ohne Inhalt, ohne Zweck; das spezifische Programm, das den überfunktionalen Plan erzeugt hat, ist abhandengekommen: Alles muss raus! Was ist die Zukunft von Effizienzmaschinen, die sich nicht mehr rechnen? Aus allem Logistikhubs und Serverzentren zu machen, ist sicherlich zu einfach. Im Umbau als höchster Stufe der Architektur stellen sich hier wenig formale Fragen, es werden erneut technische Parameter sein, gebundene Energie, Erschließung, Licht und vor allem Luft, die die Struktur neu strukturieren.

Auch im gegenwärtigen Alltag sind alle Funktionalisten geworden. Die Überschrift des Studienprojekts der Bauhausklasse von Hannes Meyer ist das Motto der Zeit: Der Grundriss errechnet sich aus folgenden Faktoren! Der 800-Quadratmeter-Supermarkt ist eine feste Größe im Alltag. Zehn Quadratmeter pro Person im geschlossenen öffentlichen Raum sind möglich. Die 35.000 Kubikmeter Luftvolumen der Semperoper ergeben 331 Zuschauer. Alle, die Bundeskanzlerin eingeschlossen, scheinen den Neufert zu lesen, und zwar in einer Ausgabe von 1961. Die Frischluft, das lange unbeachtete Medium, ist wieder da. Plötzliche, jenseits aller Konditionierung und mechanischen Kontrolle, in ihrer historischen Form: Fenster auf! Das Anthropozän ist infrage gestellt, die ganze Innovation dahin. Das Werkzeug einer aerosolfreien Luft ist das Fenster, maximal unterstützt von einem 200-Euro-Gebläsebausatz, den das Max-Planck-Institut für Chemie entwickelt hat. Das Ende von allem ist die Wiederkehr des Funktionalismus. Es lebe der Funktionalismus!

 

Diese Kolumne stammt aus der Dezemberausgabe 2020. Hier geht es zum Shop.

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