31.08.2015

Öffentlich

Robuste Poesie

Ostfassade mit Bezug zum Ozean

In Chinas Norden steht eine Bibliothek am Strand und trotzt dem harschen Wetter als Schutzraum in Beton. Der Chefarchitekt Gong Dong von Vector Architects erklärt, wie das Grundstück den Entwurf beeinflusste.

 

 

Baumeister: Herr Dong, das Gebäude befindet sich auf einem ungewöhnlichen Grundstück – wie kam es zum Bau der Bibliothek direkt am Strand?
Gong Dong: Die Bibliothek gehört zum Masterplan für eine Gemeinde, die derzeit an diesem Ort entsteht. Sie dient in erster Linie den Einwohnern, ist aber auch für die Öffentlichkeit zugänglich.

 

B: Wie reagiert das Gebäude auf die Gegebenheiten dieses Orts wie zum Beispiel den Salzgehalt in der Luft?
G D: Die Bibliothek ist keine gewöhnliche; die Bücher bleiben nur vorübergehend dort. Nach ungefähr einem halben Jahr werden sie zu Schulen in der Umgebung gebracht. Eigentlich handelt es sich eher um einen Lesesaal – ein Lesesaal mit Buchbestand. Das Wetter am Meer ist sehr harsch. Wir wählten ein Material, das sich dem Wetter anpasst. Beton ist eher wie ein Stein, also längerfristig einsetzbar, im Vergleich zu Stahl, der am Meer rosten würde. Beton ist da weniger empfindlich.

 

B: Und wenn die Flut kommt…?
G D: Das Wasser kommt dem Gebäude nur etwa auf 20 bis 30 Meter nahe. Unter normalen Bedingungen gibt es also keine Probleme. Bei einer Überflutung könnte es natürlich Probleme geben – so wie bei anderen Gebäuden eben auch. Das passiert vielleicht einmal in zehn Jahren. Das Material im Innenraum ist dasselbe wie außen, also ist das Gebäude weniger empfindlich, falls Wasser hinein gelangt.

 

 

B: Bietet der Baustoff Beton noch andere Vorteile? Wie wird er gestalterisch eingesetzt?
G D: Als ich diesen Ort zum ersten Mal besuchte, kam das Gefühl in mir auf, dass man sich als Mensch bei den rauen Wetterverhältnissen oft unsicher fühlt. Die Wetterbedingungen am Meer können sehr brutal sein – es gibt starken Regen und Stürme. Wir wollten, dass dieses Gebäude als eine Art Schutzhülle funktioniert, die den Besucher quasi umhüllt. Da wir uns in dieser sehr natürlichen Umgebung keine glatten Oberflächen vorstellen konnten, gaben wir dem Beton eine Struktur durch eine Holzschalung. Sie verleiht dem Gebäude Vergänglichkeit.

 

 

B: Gab es noch andere Faktoren, die den Entwurf beinflussten?
G D: Die Beziehung zwischen dem Gebäude und dem Meer ist natürlich einer der wichtigsten Punkte. Im Längsschnitt sieht man, dass die Bibliothek aus einer Anordnung von „Boxen“ besteht. Jede Box hat eine spezifische Beziehung zum Ozean. So haben die Besucher in jedem Gebäudeteil einen ganz individuellen Bezug zum Meer und individuelle Lichtverhältnisse.

B: Und diese Einheiten kann man auch an der Fassade ablesen…
G D: Zumindest auf der Ostseite, die zum Meer ausgerichtet ist. Hier lässt sich das Raumprogramm sehr gut an der offenen Struktur ablesen. Die anderen Seiten sind eher geschlossen. Die meisten Leute gelangen von Süden oder Westen in die Bibliothek. Für sie erscheint das Gebäude als geschlossene Kiste – im Innern erschließt sich ihnen ein Raum, den sie von außen nicht erahnen können.

 

 

 

B: Welche Rolle spielt das Thema Licht bei der Bibliothek?
G D: Das Gebäude ist eine Kiste, deren lange Seiten nach Osten und Westen ausgerichtet sind. Die Lichtverhältnisse an diesem Ort sind sehr klar und direkt, da es keine Verschattung durch andere Bauten oder Bäume gibt. Die Bibliothek ist somit der kompletten Sonnenbewegung ausgesetzt.
Im dreieckigen Meditationsbereich gibt es ein 30 Zentimeter hohes Fenster zum Ozean und ein 30 Zentimeter hohes Fenster zur Westseite. Die Sonne kommt von Osten und geht im Westen unter – es gibt verschiedene Lichteffekte am Morgen und am Nachmittag. Im Aktivraum gibt es im Osten ein Oberlicht sowie eine Öffnung nach Westen. Wenn am Tag warmes, direktes Sonnenlicht von Osten in diesen Raum fällt und gleichzeitig kälteres diffuses Licht von Westen, kann man dort zwei verschiedene Lichtszenarien spüren. Mit diesem Beispiel möchte ich sagen, dass wir uns bei diesem Gebäude stark mit der Ost-West-Ausrichtung beschäftigt haben.

 

 

B: Wie nehmen die Leute die Bibliothek am Strand an?
G D: Die Bibliothek stellt eigentlich nur 80 Sitzplätze zur Verfügung. Wie ich gehört habe, kamen im letzten Monat an den Wochenenden täglich 2.000 Leute. Es entstanden lange Warteschlangen. Das lag daran, dass das Projekt in China viel online publiziert wurde. Im Moment muss man einen Besuch online buchen, ansonsten wird es zu voll. Dann ist es keine Bibliothek mehr, sondern erinnert eher an einen Bahnhof. Aber im Laufe der Zeit wird es wahrscheinlich wieder ruhiger – und man kann in der Bibliothek wieder lesen.

Das vollständige Interview lesen Sie im Baumeister 9/2015

 

Fotos: Su Shengliang; Xia Zhi; He Bin

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